20050309 \  In der Diskussion \  Wider das digitale Vergessen
Wider das digitale Vergessen
Alle sprechen von der Informationsüberflutung, kaum jemand bemerkt das „Digitale Vergessen“. Zukünftige Archäologen werden vielleicht die Frühzeit der EDV einmal als das „Dunkle Zeitalter“ bezeichnen. Und diesem Zeitalter sind wir noch nicht entronnen.
Wem gehören die digitalen Erinnerungen?
Vielleicht erinnert sich der Eine oder Andere an eine Nachricht, die vor kurzem die Runde machte. Die Eltern eines im Irak gefallenen US-Soldaten wollten an den Yahoo-Postkorb ihres Sohnes, um eine letzte Korrespondenz, seine Berichte über seine letzten Tage als Erinnerung zu erhalten. Yahoo lehnte dieses mit Hinweis auf die Datenschutz- und Privacy-Regeln ab. Inzwischen dürfte der Account gelöscht sein. Die Zeiten, wo man beim Aufräumen noch die Stapel Liebesbriefe der Großmutter finden konnte, die Tagebücher eines Wissenschaftlers in unaufgeräumten Kisten entdeckte, sind im digitalen Zeitalter offenbar vorbei. Einerseits verschwinden Informationsbestände auf nicht mehr lesbaren Disketten und ausgemusterten Festplatten, andererseits geben sich manche einer nie gekannten Öffentlichkeit preis, indem sie ihre Daten ins Internet vervielfältigen. „Information Flood“ und „Information Gap“ sind zwei Seiten der gleichen Medaille.
Das Ende der papiergebundenen Dokumentationskultur
Eine Jahrhunderte alte Papiertradition ist abgerissen, obwohl Bücher und Druckerwerke, Kopien und Ausdrucke in nie gekanntem Maße erzeugt werden. Fast alle Dokumente sind heute „digital born“, in elektronischen Systemen erzeugt, und wer schreibt noch von Hand? Selbst das Ausfüllen von Vordrucken wird uns inzwischen auf Webseiten mit der Tastatur ermöglicht. Auch dieser Beitrag ist „digital born. Man könnte ihn auch gleich ins Web stellen. Immer mehr Information entzieht sich der Repräsentation auf Papier. Dokumente werden erzeugt, die nicht mehr für einen Ausdruck vorgesehen oder gar nicht mehr druckbar sind. Wer bewahrt diese Information? Wo ist die elektronische Überlieferung, die eigentlich nahtlos an die Papiertradition anschließen müsste?
Die Hardwareindustrie bietet uns immer größere Festplatten, die Softwareindustrie liefert uns die Suchmaschine für den Desktop, die immer alles finden soll. Sind dies Lösungen oder vergrößert sich nur das Problem?
Das digitale Vergessen greift um sich
Betrachten wir einmal verschiedene Aspekte des Phänomens: Das Digitale Vergessen entsteht nur nachrangig durch nicht mehr lesbare Speichermedien oder Systemabstürze. Nachlässigkeit, Beschränkung der Postkorbgröße, regelmäßige Löschung von Daten und Dokumenten, die einen bestimmten Zeitraum nicht „angefasst“ worden sind, die Festplatte „C“ – es gibt viele Ursachen für das Entstehen des Digital Gap. Ein weiterer Grund liegt in unserem Verhalten: so wird die Mail mit der animierten 6-MB-Weihnachtsmann-PPT im Unternehmen vielleicht 1000mal gespeichert, wohin gegen der wichtige Vertrag, den 6 Mitarbeiter verabschieden sollen, vielleicht nie gespeichert wird, da jeder glaubt, der andere tut es. Suchmaschinen versprechen automatisiert Ordnung zu schaffen, alles ohne Ordnung auch zu finden. Dies kommt dem Menschen entgegen. Ordnen oder gar bewerten kostet Zeit – und man wird ja bereits vom Piepen des Mail-Eingangs zur nächsten Aktivität weitergehetzt. Gerade aber in der Bewertung von Information liegt die Herausforderung.
Der Wert von Information
Was ist wichtig, was kann wichtig werden, was sollte bewahrt werden. Das Grundverständnis, das Information gepflegt werden muss, dass man mit ihr ordentlich umgeht, redundantes löscht, die digitalen Originale behält (aber wer weiß schon noch, was ist Original und was ist Kopie?), ist noch nicht ausgeprägt.
Die kulturelle Auseinandersetzung mit der Bewahrung des Gedächtnisses des Informationszeitalters steckt noch in den Kinderschuhen.
Den Informationswirten, Archivaren, Dokumentaren, Chief Information Officers und Registratoren ist es noch nicht gelungen, eine digitale Tradition zu etablieren. Man lässt sie ja auch kaum, man wähnt sie noch im staubigen Archiv. Die Politik wirft nur von Wahlperiode zu Wahlperiode neue Blasen. Die Bedeutung und der Wert von Information stehen noch nicht auf den Lehrplänen unserer Schulen und Universitäten. Man nimmt die Möglichkeiten der elektronischen Welt einfach hin, freut sich über jedes neue Feature. Aber es geht nicht um Technik, es geht um unsere Verantwortung, die zunächst ein Erkennen der Situation voraussetzt. Erst mit der Erkenntnis unserer Verantwortung für das Gedächtnis der Informationsgesellschaft kann eine neue Tradition, eine neue Kultur der Überlieferung von Information und Wissen entstehen. Eine Erkenntnis, die wir im stürmischen Alltag, getrieben durch die Geschwindigkeit und Beliebigkeit der Kommunikation und Medien, gern verdrängen. Und dabei diskutieren wir über die Informationsgesellschaft, über Wissensmanagement, über die Bedeutung von Information als Wirtschaftsfaktor, über die zunehmende Abhängigkeit von der Verfügbarkeit von Information. Die Zeit läuft uns davon und lässt das Problem wachsen. Es ist daher heute an der Zeit, diese neue Tradition der elektronischen Überlieferung zu begründen – wider das Digitale Vergessen. (Kff)
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