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Records Management Survey Schweiz
Der Records Management Survey Schweiz in ausgewählten Sektoren der Privatwirtschaft (2005/2006)
von Jürg Hagmann (Lic. Phil.)
Der Autor ist Records Manager des Pharmaunternehmens Novartis und Vorsitzender des Ausschusses AeA im Verein schweizerischer Archivarinnen und Archivare (VSA); 
E-Mail: juerg.hagmann@novartis.com.
Einführung in die Zielsetzung und Durchführung des Survey
Im Auftrag des Ausschuss eArchiv der Vereins schweizerischer Archivarinnen und Archivare (VSA) haben Studierende der HTW Chur unter Anleitung von Prof. Dr. Niklaus Stettler und der Unterstützung von PWC PriceWaterhouseCoopers zwischen Sommer 2005 und Frühjahr 2006 eine Umfrage über den Stand von Records Management in der Privatwirtschaft der deutschsprachigen Schweiz durchgeführt. Befragt wurden insgesamt 28 Firmen unterschiedlicher Betriebsgröße (multinationale Grossbetriebe sowie grössere KMU’s) aus den Branchen Chemie/Pharma, Finanz- und Elektrizitätswirtschaft. Primäre Zielsetzung der Umfrage ist die Sensibilisierung (awareness) von Verantwortlichen aller Stufen für das Thema Records Management. Sofern noch keine expliziten Records Management Programme bestehen oder initiiert worden sind, geht es darum, die Akteure, die für die Aufbewahrung von gesetzlich relevanten Unterlagen zuständig sind, zu erreichen und sie mit dem Konzept des Records Managements (abgekürzt RM) bekannt zu machen (basierend auf der ISO Norm 15489). Zur Erhebung wurden fragebogenunterstützte Experteninterviews durchgeführt. Der Fragebogen besteht aus 22 Fragen, die in acht Schwerpunkte (inhaltliche Themenblöcke) aufgeteilt sind:
   
 1.
Erwartungen, die mit der Einführung von Records Management in einer Firma verbunden sind
 2.
Einfluss der gesetzlichen Anforderungen (Compliance)
 3.
Organisatorische Maßnahmen (Policies, Aufbewahrungspläne)) und Verantwortlichkeiten
 4.
IT Ausstattung. Sind die Systeme in der Lage, die Authentizität und Integrität der Unterlagen zu garantieren?
 5.
Organisation der Ablage (Filing)
 6.
Langzeitarchivierung
 7.
3 – 5-jährige Planungsvorhaben
   
 8.
Längerfristige Zukunftserwartungen, Trends und Nutzenaspekte
Ergebnisse des Survey
Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen:
   
 ·
Es besteht eine starke Korrelation zwischen der Betriebsgröße und dem Stand von Records Management in den untersuchten Firmen.
 ·
Am weitesten fortgeschritten sind die RM Programme der Grossbetriebe in der chemisch-pharmazeutischen Industrie.
 ·
In KMU’s scheinen die Aktivitäten noch gering zu sein und  Handlungsbedarf wird kaum signalisiert. Hier ist der Begriff und die Disziplin des Records Management noch weitgehend unbekannt.
   
 ·
Insbesondere in der Elektrizitätswirtschaft hat sich die traditionelle Art der Schriftgutverwaltung bis heute bewährt.
Unabhängig von der Branche haben sich im wesentlichen drei Befunde bzw. Problembereiche herauskristallisiert:
   
 ·
 Records Management wird noch nicht als Supportprozess verstanden, der als Querschnittfunktion durch alle Unternehmensbereiche hindurchgeht. Es wird nicht das ganze Organigramm abgedeckt. RM beschränkt sich auf die wenigen bekannten und klassischen Bereiche des Schriftguts (Finanzen, Personal u.a.m.).
 ·
 Unvollständig ist die Abdeckung auch in Bezug auf die Kontrolle von Unterlagen. In der Regel werden die offiziellen Records, die in den Kernprozessen entstehen, gut verwaltet, hingegen entziehen sich die sogenannten Inventar resistenten Unterlagen aus Office-Systemen – insbesondere Korrespondenz mit e-Mails – der zentralen Verwaltung durch einen Akten- und .Aufbewahrungsplan (schedule). Damit ensteht ein potentielles Compliance Problem.
   
 ·
 Ausbildung und interne Schulung für alle Mitarbeiter einer Firma ist nötig, um die Thematik in den Unternehmen besser bekannt zu machen, um Risiken in Bezug auf die Rechenschafts- und Auskunftsfähigkeit der Organisation zu minimieren.
Nach dem Ergebnisteil werden drei Fallstudien vorgestellt (UBS, Novartis, Elektrizitätswerke der Stadt Zürich (ewz), die im Sinne von «Best-Practice» aufzeigen, wie Records Management in der Praxis umgesetzt werden kann.
Das Erfreuliche am Projekt war die Tatsache, dass eine fruchtbare Kooperation innerhalb des oft ungleichseitigen Dreiecks Wissenschaft - Wirtschaft - Berufsverband entstand.
Dieses Vorgehen sollte vermehrt Schule machen, können doch damit mehrere Ziele gleichzeitig verfolgt werden:
   
 ·
 die Fachhochschulen erhalten Untersuchungsfelder und Kontakte zur betrieblichen Praxis und können auf konkrete Weise die Managementdisziplin Records Management befruchten bzw. erforschen
 ·
 die Wirtschaft erhält Input (awareness) und schafft potentiell neue Stellen, um RM in den Firmen zu professionalisieren
   
 ·
 der Berufsverband kann neue Mitglieder werben und entsprechendes Know-how auf einer generischen Ebene vermitteln
Kommentar zu Themenblock 3:  
Organisatorische Maßnahmen und Verantwortlic
hkeiten
Die Fragen 5 und 6 ergründeten die Verantwortlichkeiten für Records Management in der Organisation und ihre Positionierung in der Hierarchie. Generell gilt: je höher in der Hierarchie die RM Funktion angesiedelt ist, desto höher ist der Stellenwert und das Bewusstsein für RM in der Organisation. In Ergänzung zum Bericht, muss jedoch an dieser Stelle eine differenziertere Betrachtung angestellt werden. Was der Bericht nicht differenziert (bzw. der Fragebogen nicht ergründet), ist die Ebene der Umsetzung von RM (Prozessverantwortung) in der Organisation. In der Praxis haben sich nämlich zwei Modelle herauskristallisiert:
Modell 1:  
Geteilte Verantwortung (strategisch und operativ)
Dieses Modell dürfte nur in größeren Unternehmen (Konzern) zur Anwendung kommen. Eine von der Geschäftsleitung eingesetzte Fachstelle steuert, koordiniert und harmonisiert sämtliche RM Aktivitäten auf der globalen strategischen Ebene und ist primär verantwortlich für das normative Rahmenwerk (Legislative mit Weisungsbefugnis) entwickelt aber auch Services, die der operativen Ebene bei der Umsetzung dienen. Auf der operativen Ebene sind die einzelnen Geschäftseinheiten verantwortlich für die Umsetzung der lokalen RM Programme. Dieses Modell ist noch wenig verbreitet, da primär die Probleme dort gelöst werden, wo die Records täglich anfallen – im Business. Die Fallstudie der Firma Novartis (Bericht S. 39ff) zeigt jedoch, dass für international tätige Konzerne dies der einzige Weg sein dürfte, um alle Aktivitäten im Sinne einer einheitlichen Policy konzernweit und effektiv zu steuern und zu koordinieren. Neben Novartis hält sich auch die SwissRe an dieses Modell und auch die UBS hat entsprechende Maßnahmen in diese Richtung eingeleitet (Bericht S. 38).
Modell 2:  
Einheitliche Verantwortung (operativ)
Die RM Funktion ist neben der Herausgabe von Weisungen direkt zuständig für die Umsetzung des RM Programms; d.h. sie erstellt die Inventare, die Aufbewahrungspläne, organisiert die Ablage sowie die Vernichtung. Die Ergebnisse in der Grafik auf S.18 (Frage 6) des Berichts beziehen sich primär auf dieses Modell.
Generell gibt es bei dieser Frage keine eindeutigen Positionierungen. Am meisten ist die RM Funktion in einer Stabsstelle in der Logistik (Dienste, Archiv) oder in “anderen Bereichen” (IT) angesiedelt. Branchenspezifisch ist interessant, dass in der Pharmabranche RM noch öfters in der Forschung & Entwicklung aufgehängt ist und in der Elektrizitätswirtschaft im Finanzbereich, d.h. in Kernprozessen. Dies deutet auf die Nähe der RM Funktion zum operativen Geschäft.
Unterschiede zwischen dem öffentlichen und  
priv
aten Sektor
Der Bericht hat schließlich indirekt deutlich gemacht, dass es ein paar signifikante Unterschiede zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor gibt, die hier z.T. als Thesen formuliert werden.
   
 ·
 Relevanz der organisatorischen Einbettung und Positionierung der RM Funktion in der Organisation:
Während im öffentlichen Sektor in der Regel ein zwingender Auftrag vom Gesetz her besteht und daraus eine entsprechende (stufengerechte) Funktion mit den nötigen Kompetenzen abgeleitet wird, muss sich in der Privatwirtschaft die Funktion RM ihre Position in der Organisation meist erst erkämpfen. Wenn sie dann mal geschaffen ist, geht es um die Einbettung in der Unternehmenshierarchie. Hier gilt: je höher, desto besser der Stellenwert von RM und desto größer die Budgets. Allerdings kann eine gute Positionierung den Durchsetzungserfolg eines RM Programms noch nicht garantieren, aber es ist eine wichtige Voraussetzung. Während das Topmanagement in der Regel die Legitimation von RM ohne Vorbehalte einsieht (compliance), hapert es beim Middle-Management, da diese Stufe primär am Erfolg ihrer Kernprozesse gemessen wird und nicht an der Qualität des Informations- und Records Managements.
   
 ·
Anforderungen an die Aufbewahrung:
Während im öffentlichen Sektor die Aufbewahrungsanforderungen durch die jeweiligen Archivgesetze und -verordnungen (Kantone und Bund) inkl. dauernde Aufbewahrung (Auftrag zur Überlieferungsbildung) definiert sind (z.B. mittels Registraturplänen), betrifft dies im privaten Sektor nur bestimmte Arten von Unterlagen, die als Akten einer gesetzlichen Aufbewahrungsfrist unterliegen (z.B. Geschäftsbücher, Steuerakten). Selbst diese Unterlagen werden oft nicht systematisch in Aufbewahrungsplänen (retention schedules) dokumentiert, obwohl sie mehr oder weniger sachgemäß aufbewahrt werden. Groß wird jedoch die Unsicherheit bei Unterlagen außerhalb der gesetzlichen Aufbewahrungsanforderungen, die jedoch für das betriebliche Know-how relevant sind. Hier wird meist nach Gutdünken und unkoordiniert aufbewahrt. Zusätzliche Komplexität erwächst denjenigen Unternehmen, die neben den nationalen Aufbewahrungsanforderungen auch noch internationalen Regeln nachkommen müssen (z.B. Sarbanes-Oxley). Hier haben es öffentliche Einrichtungen einfacher, sie müssen nur dem nationalen Regelwerk Folge leisten.
   
 ·
Heterogenität und Dynamik der Prozesse:
Es wäre zu untersuchen, inwiefern in der öffentlichen Verwaltung eine ebenso heterogene und dynamische Landschaft von Geschäftprozessen innerhalb einer Organisation zu managen ist wie in der Privatwirtschaft. Grundsätzlich steht zwar jede Bürokratie (unabhängig vom Sektor) vor der Aufgabe, für alle vorkommenden Geschäftsprozesse, die daraus generierten Unterlagen adäquat zu handhaben und je verschiedenartiger diese anfallen, desto komplexer und anspruchsvoller dürfte ihr Management sein. Aber es geht auch um das Verhältnis zwischen Entscheiden mit vordefiniertem Ergebnis und Entscheiden mit offenem Ergebnis. Ersteres ist berechenbarer und als Workflow einfacher zu designen. Es gibt eine endliche Anzahl Records Serien innerhalb eines definierten Prozesses.  Es ist zu vermuten, dass im öffentlichen Sektor der Anteil von Entscheiden mit vordefiniertem Ergebnis größer ist als jener von Entscheiden mit offenem Ergebnis. Für Hinweise aus der betriebswirtschaftlichen Literatur, die diese These stützen, wäre ich dankbar. Schließlich ist ein von der Dynamik der Marktwirtschaft getriebenes Unternehmen einer höheren Beschleunigung des Change Management unterworfen als der öffentliche Sektor, was eine dauernde Änderung und Anpassung der Prozesse und folglich auch der daraus hervorgehenden Unterlagen bedingt.
Wo es jedoch mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede gibt ist in den Bereichen RM “Projektmanagement” sowie in der technischen Implementierung von Lösungen, wenn sie nicht allzu (branchen-)spezifisch sind, also etwa auf der Ebene der Langzeitarchivierung oder e-Mail Archivierung. Auch in der Formatfrage kämpfen alle mit derselben Problematik, unabhängig vom Sektor. Was PWC vor zwei Jahren als Empfehlung für RM-Projekte im öffentlichen Sektor abgegeben haben, lässt sich genauso gut auf den privaten Sektor übertragen (Reitze, T.; Braun, T.; Bischof, M.: Elektronische Verwaltung von Akten und Geschäftsprozessen, Studie zum aktuellen Stand des Records Management im öffentlichen Sektor, Bern,. 2004, S.21):
   
 ·
RM auf Ebene Gesamtverwaltung bzw. Gesamtunternehmen behandeln.
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Genug Zeit in konzeptionelle Vorarbeiten investieren.
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Strategische und organisatorische Grundlagen schaffen.
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Lösung auf längerfristigen Zeitraum zuschneiden.
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Es gibt keine Wunderlösung! Individuelle Zielsetzungen und Nutzenerwartungen formulieren.
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Genaue Nutzenanalyse durchführen.
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Solide ausgereifte Technologie wählen.
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Vernünftiger Grad der Automatisierung wählen.
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Grosses Augenmerk auf Kommunikation und Change Management legen.
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Etappiertes Vorgehen wählen, gegliedert nach einzelnen Realisierungschritten.
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Realistisch den Aufwand abschätzen.
   
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Vom Erfahrungsschatz anderer profitieren.
Download des ganzen Berichts unter:  
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