Peter M. Toebak: Records Management. Ein Handbuch
Verlag hier+jetzt, Baden, September 2007, 620 Seiten., ISBN 978-3-03919-059-1, Fr. 78,00, Euro 48,80.
Eine Rezension von Jürg Hagmann, Records Manager bei Novartis, juerg.hagmann@novartis.com. „Records Management … ist für wirklich „lernende Organisationen“ einer der heilsamsten und lehrreichsten Organisationsentwicklungsprozesse“. (S.9)
Mit diesem Credo füllt das im hier+jetzt Verlag, Baden herausgekommene Buch eine wichtige Lücke auf der Fachebene Records Management im deutschsprachigen Raum, obwohl es als „Handbuch“ etwas leichter daherkommen dürfte. Dass das sorgfältig geschriebene und detailreiche Werk gleich 608 Seiten schwer geworden ist, kann man dem Autor jedoch verzeihen, denn der gut strukturierte und „anwendungsorientierte“ Inhalt erlaubt es der/dem fachkundigen Leser/in, die meisten der einzelnen Kapitel auch für sich zu lesen. Wer sich also nur für E-Mail Management interessiert, kann sich über diesen Spezialaspekt gezielt informieren.
Allerdings wird sie/er dabei sicher mehr Appetit auf die weiteren Zusammenhänge bekommen, denn Records Management ist inzwischen zu einer Querschnittfunktion geworden, die andere Disziplinen wie Informationsmanagement, Recht, Wirtschaftsinformatik u.a.m. ebenso interessieren müssen. Es ist denn auch eines der Hauptverdienste des Buches, dass der Autor seine interdisziplinäre und zugleich integrative Sichtweise immer wieder in die Argumentation einfliessen lässt. Records Management steht vor echten interdisziplinären Herausforderungen (S. 22) und die „Interdisziplinarität ist unerlässlich“(S. 34) auch oder gerade im Umfeld von e-Business und e-Government (s. 143ff).
Auch die Positionierung von Records Management als Managementdisziplin erfolgt in einer Gesamtbetrachtung von verwandten Disziplinen des ABD-Bereichs inklusive Wissensmanagement (die Unterschiede zum Records Management werden auf den S. 57ff aufgelistet, wobei aber die impliziten Anteile des Wissens vernachlässigt werden). Die Zusammenhänge zwischen den Stakeholdern im Verbund der informationswissenschaftlichen Tätigkeiten werden dafür ausführlich erläutert („Inner and Outer Circle des Records Managements“, S.33)
Ein wesentliches Anliegen des Autors ist es auch Records Management durchgehend sowohl von der logisch-organisatorischen als auch von der technischen Seite her zu betrachten, wobei sein Akzent richtigerweise auf den logisch-organisatorischen Aspekten liegt. Diesen Punkt sollten sich insbesondere die IT-Manager und -spezialisten zu Gemüte führen, da erfahrungsgemäss Records Management in allen Organisationen noch immer zu ausschliesslich von der technischen Infrastrukturseite her angegangen wird.
Gleichermassen sollten sich IT-Manager die ROI-Berechnungen vor Augen führen, die zahlenmässig belegen, dass durch die Einführung von Records Management Systemen durchaus die operationelle Effizienz verbessert werden kann (S. 125ff , Return on Investment: Effizienz und Effektivität). Die im Buch dargestellten betriebswirtschaftlichen Rechenbeispiele füllen eine echte Lücke in der RM Literatur, obwohl der US-amerikanische RM-Papst, William Saffady schon vor Jahren einen ähnlichen Beweis erbracht hat. Dieses Kapitel belegt auch eindrücklich wie das operationelle Effizienzargument nach wie vor ein wichtiges Motiv für die Einführung von Records Management ist, obwohl es in den letzten Jahren zugunsten von Compliance etwas in den Hintergrund gerückt ist.
Zu den positiven Punkten des Buches gehören auch die zahlreichen Grafiken und Tabellen (inkl. Abbildungsregister, S. 582ff), die den Text hilfreich unterstützen. Gut zu gebrauchen sind zudem das Glossar einiger wichtiger Begriffe (S. 586ff) sowie das Personen- und Sachregister. Allerdings werden die Begriffe nicht immer genügend differenziert. Insbesondere bei der wichtigen Unterscheidung zwischen Daten-Records und Unterlagen-Records werden die Annahmen nicht ausreichend erklärt. Ja, es wird sogar angenommen, dass es sich bei Daten-Records (IT Datensatz) implizit auch um Records handelt, was wohl in den meisten Fällen zutrifft (z.B. in ERP Systemen). Nur ist nicht jeder Daten-Record (Datensatz nach IT-Definition – ISO 5127) unbedingt ein Record im Sinne des Records Managements. Die Feststellung , dass sich diese Bezeichnungen im angelsächsischen Fachjargon durchgesetzt haben (S. 19) erhellt den Unterschied noch nicht; zudem werden angelsächsische Quellen vermisst, die den Gebrauch dieses Fachjargons belegen.
Der Anhang ist insgesamt sehr dienlich, einzig nach einigen Stichwörtern sucht man vergeblich im Glossar oder Sachregister (z.B. Aktenplan oder Aufbewahrungsplan), dafür findet man das englische Aequivalent (Retention Schedule). Dies indiziert vielleicht ungewollt was schon stattfindet, nämlich die Verschmelzung der europäischen Tradition der Schriftgutverwaltung mit dem angelsächsisch geprägten Records Management.
Dossierbildung ist das Herzstück eines effizienten Records Management Systems und auch eines der Hauptanliegen des Autors (S. 197ff). Das Postulat ist berechtigt, allerdings muss dessen Praktikabilität aus Sicht der bisherigen Unternehmenspraxis relativiert werden. Entweder existieren bereits ausgefeilte Strukturen in Fachapplikationen aufgrund strenger regulatorischer Anforderungen von Behörden (z.B. das Registrierungsdossier in der Pharmaindustrie) oder es herrscht pure Redundanz, die jegliche Bemühungen einer systematischen Bildung einer Struktur auf der Ebene Gesamtorganisation ignoriert, sei es aus Gleichgültigkeit oder Unverständnis. Die Dossierbildung im Sinne einer Einführung von klaren organisationsweiten Regeln für die Ablage (physisch oder elektronisch) mit Hilfe von Klassifikationen, Stammdaten und Taxonomien scheitert leider oft noch aus vielen Gründen, obwohl sie dringend nötig wäre: es gibt gar keine Regelungsinstanz oder keine gültig anwendbare Klassifikation; falls vorhanden wird sie nicht durchgesetzt, es gibt keine Akzeptanz oder zu komplexe Taxonomien, die kaum praktikabel sind etc.
Die Dossierbildung gehört sicher zu den schwierigsten Herausforderungen bei der Umsetzung von Records Management und ich fürchte, dass der Anspruch des Autors in dieser Form zu hoch ist. Ebenso die Hoffnung, dass sich die Entwicklung zur Professionalisierung der Buchhaltung („bookkeeping“) im Bereich des Records Management („record keeing“) wiederholen wird (S.16) oder dass Records Management in Zukunft gar den gleichen Stellenwert von Managementdisziplinen wie Finanzwesen oder Human Resources bekommt (S. 15). Wir sind heute schon froh, wenn wir uns als gleichberechtigte Partner mit der IT und dem Rechtsdienst an einen Tisch setzen können.
Obwohl das Buch für manche PraktikerInnen Lösungsansätze bereit hält, vermisst man noch einfache Checklisten mit konkreten Umsetzungsempfehlungen, etwa so wie dies im angelsächsischen Handbuch von Elizabeth Parker geleistet wird, das gerade durch seine Einfachheit besticht.
Vermisst wird auch ein Hinweis auf Ausbildungsmöglichkeiten betreffend Records Management in der Schweiz, was allerdings neu durch das Buch „Archivpraxis Schweiz“ abgedeckt wird. Die Bibliografie ist ausreichend, obwohl ich ein Schlüsselwerk der angelsächsischen Literatur vermisse, weil es insbesondere die Verantwortung der Senior-Executive Ebene und der IT anspricht. Unter den Links (s. 581) hätte eigentlich auch derjenige des VSA nicht fehlen dürfen, dessen Unterstützung ja explizit gewürdigt wird.
Trotz dieser kleineren Mängel ist dem Autor eine grosse Arbeit gelungen. Lassen Sie sich vom Umfang des Werks nicht abschrecken, wagen Sie den Einstieg und tragen Sie dazu bei, dass Records Management in ihrer Organisation einen Stellenwert erlangt der dem symbolischen Gewicht dieses Buches entspricht.
Es ist zu hoffen, dass das Werk nicht nur Impulse für Records Management als Managementdisziplin gibt, sondern auch dazu beiträgt, dass aus der praktischen Umsetzung der Disziplin in den Unternehmen und in der Verwaltung ein fast selbstverständlicher Habitus wird – mit derselben Selbstverständlichkeit wie Records aus jeder Geschäftstätigkeit entstehen. Dann wäre es nicht mehr nötig Vorträge zu halten unter dem Titel: Successfully selling what nobody wants .... In Zukunft muss es heissen: „Successfully doing what everybody needs.“