Manchmal lohnt es sich doch seine alten Whitepaper und Vortragsskripte hervorzukramen. Vor zehn Jahren, im Frühjahr 1996, hatte ich auf dem IMC Executive Summit in Cannes eine Keynote zum Thema „Document Management as IT Infrastructure“ gehalten. Darin ging es darum, dass Dokumentenmanagement betriebssystemnaher Bestandteil der IT-Infrastruktur wird. Damals - es war die Zeit als sich mit der DMA Document Management Alliance erstmals Middleware-, Standardschnittstellen- und Dienstekonzepte entwickelten und das Web begann herkömmliche Architekturen in Frage zu stellen - war ich nur von wenigen Jahren ausgegangen, bis es soweit ist. Allein, die Hersteller ließen mich mit meiner Vorhersage im Regen stehen. Erst jetzt findet der Paradigmenwechsel statt: SAP liefert Workflow, DMS und Records Management mit, Oracle 10g macht das Referenzdatenbankmodell obsolet und integriert strukturierte, schwach strukturierte und unstrukturierte Information, die Speichersystemhersteller rüsten unter dem Schlagwort ILM Information Lifecycle Management die SAN- und NAS-Betriebssysteme auf – und, recht spät – Microsoft nimmt sich des Themas ECM Enterprise Content Management ernsthaft an.
Microsoft ante Portas
Microsoft focht seine Schlachten bisher an anderen Fronten aus. Enterprise Content Management geriet erst durch verschiedene, parallele Entwicklungen in den Fokus des Standardsoftwareanbieters: Der Sarbanes-Oxley-Act machte deutlich, dass die Verwaltungsfunktionalität von Exchange und Outlook unter Compliance-Gesichtspunkten unzureichend ist – herkömmliche E-Mail müsste man glatt verbieten. Das immense Anwachsen von Information konzentrierte sich besonders auf schwach- und unstrukturierte Dokumente, die auf der Microsoft-Plattform nur schwer zu verwalten und zu kontrollieren sind – OSTs, PSTs, Filesystem, Sharepoint, SQL-Server … der Speicherorte gibt es viele, allzuviele. Die Server-Produkte von Microsoft gewannen gegenüber den Personal-Productivity-Tools auf dem Arbeitsplatz an Bedeutung - und es werden mehr und mehr webfähige Lösungen gefordert, die Funktionalität verlagert sich immer mehr auf die Server. Nicht zuletzt bekam Microsoft Hunger am „Content“ selbst – wer die Inhalte im Griff hat steht in Punkto Kundenbindung besser da, denn Software ist austauschbar. Seit nunmehr zwei Jahren versucht Microsoft das Thema ECM selbst zu besetzen.
Ist das Glas halb voll oder ist es halb leer?
Was bietet nun Microsoft wirklich? Ist es ein vollständiges ECM wenn man die Definition der AIIM international zu Grunde legt?
Wir sprechen hier nicht über die vorhandene Software wie Office 2003, den aktuellen Sharepoint oder Windows XP. Auch hier ist schon Dokumentenmanagementfunktionalität vorhanden – man muss nur etwas basteln. Mit dem neuen Sharepoint, der Integration von Infopath für Formulare, der Erweiterung von Biztalk kommt man dem Thema ECM schon näher. Der Content Server wird dabei zukünftig auf der Strecke bleiben und Web Content Management wird mit Sharepoint zusammenfließen – auch dies ein Ansatz nach dem ECM-Konzept der AIIM. Die Office-Produkte werden immer mehr integriert – und schaffen damit immer mehr Abhängigkeiten … - und mit Dokumentenmanagement-Funktionalität in Gestalt von Sharepoint Services und Infopath verbunden. Die echte Revolution kommt jedoch erst mit Vista. Dann wird es eine – kleine – Workflow-Engine für alle Microsoft-Anwendungen geben. Auch das Thema Records Management wird mit einem speziellen Bereich des Sharepoint Portal Servers adressiert - von abgedeckt oder Umsetzung internationaler Standards noch zu schweigen. Aber es bleiben auch entscheidende Unzulänglichkeiten. Das Exchange Repository wird nicht abgelöst. So wird auch die „Compliance-E-Mail-Speicherung“ sich eines separaten „Speichertopfes“ bedienen. So leben denn Records Management und E-Mail-Management weiterhin nebeneinander her, von einer einheitlichen Verwaltung entsprechend Prozessen und Sachzusammenhängen kann man nicht sprechen.
ECM zwischen Vision und Realität
- so lautete eine andere Keynote von mir im Jahr 2002. Für Microsoft heißt dies, man wird besser, aber nicht längst nicht vollständig, z.B. ein standardisiertes Interface zur Anbindung der Langzeitarchivierung – der in Deutschland entwickelte ARM Active Repository Manager – wird es international nicht als Microsoft-Produkt geben. Und nicht nur deshalb bleibt das Problem des Speicherortes, da Microsoft die Einführung eines datenbankbasierten, einheitlichen Filemanagers als zu risikoreich betrachtet – obwohl dieser eigentlich mit Vista kommen sollte. Ein Beispiel: möchte man also Dokumente auf seinem Notebook mitnehmen oder über mehrere Standorte replizieren dann gibt es bei Microsoft die Optionen wie Sharepoint-Dokumente im Outlook-Client, Exchange- und Outlook-Dokumente in einer OST, Offline-Dateiordner, Peer-to-Peer-Replikation mit Groove … der Schaffung von Redundanz und Inkonsistenz sind keine Grenzen gesetzt. Eine durchgängige ECM-Anwendung für alle Microsoft- Komponenten? Fehlanzeige. Vieles bleibt Stückwerk – die Berater und Integratoren werden sich freuen.
Götterdämmerung im ECM-Markt
Viele traditionelle ECM-Anbieter atmen auf, jedoch macht sich die Marktmacht von Microsoft bemerkbar. Erste Anbieter verschenken inzwischen ihre ECM-Software als Add-on zu Microsoft und wollen ihr Geschäft mit Dienstleistung und Integration bestreiten. Tom Jenkins von OpenText oder Josef Gemeri von Easy verkünden bereits, dass sie sich schwerpunktmäßig auf Zusatzprodukte zum Sharepoint konzentrieren wollen. Und viele Partner erleben zur Zeit ein böses Erwachen. In der Vergangenheit haben sie mit ihren ECM-Produkten Microsoft beschützt, fehlende Funktionalität beigesteuert. Zukünftig wird mancher Partner durch das Microsoft-eigene ECM-Portfolio ersetzbar. ECM wird Allgemeingut, auch für Mittelständler und Kleinunternehmen verfügbar, ECM wird IT-Infrastruktur! (Kff)