Der Begriff Langzeitarchivierung ist zunächst einmal ein Pleonasmus, ein „weißer Schimmel“. Archivierung impliziert bereits den Langzeitaspekt. Abgeleitet vom griechischen Begriff „archaion“ für Rathaus wird der Begriff „Archiv“ sehr nah an die Aufbewahrung wichtiger, offizieller Aufzeichnungen gerückt. Heute wird der Begriff „Archiv“ in sehr unterschiedlichem Kontext benutzt, Archiv als Ort, Gebäude, Keller, in dem die Unterlagen aufbewahrt werden, Archiv als Beschreibung des Inhalts, als Sammlung von Objekten. Geht man in den technischen Bereich hinein, so wird der Begriff Archiv sowohl für Datensicherungen als auch für mit Datenbanken direkt erschließbare Informationssammlung bezeichnet. Archive sind gekennzeichnet durch Ordnung, denn ein Archiv lässt sich nur nutzen, wenn die enthaltenen Informationen darin erschlossen sind. Ob dies bei einem Papierarchiv ein Findbuch ist oder bei einem elektronischen Archiv ein Records Management ist vom Prinzip her egal. Die Diskussion um Archive hat in der elektronischen Welt eine neue Dimension erfahren. Nicht umsonst sprach der damalige EU-Kommissar für die Informationsgesellschaft, Erkki Liikanen davon, dass „Electronic Archives are the Memory of the Information Society“sind. Bei der Archivierung erhebt sich immer sofort die Frage nach dem Medium. Auch Papier zerfällt, Mikrofilme werden unlesbar, Tontafeln zerfallen. Bei der elektronischen Archivierung begeben wir uns in eine virtuelle Welt. Das Archivgut ist nicht mehr physisch greifbar. Es befindet sich irgendwo als „Bits-&-Bytes“ auf einem elektronischen Speicher. Drei Problemfelder sind hier zu berücksichtigen – neben der Unfähigkeit des Menschen elektronische Archive ohne elektronische Hilfsmittel nutzen zu können.
Problem Nr. 1: das Format der Dokumente selbst. Textverarbeitungsdateien, E-Mails, Videos, Sprachaufzeichnungen, Multimediaobjekte, Zusatzinformationen. Die Vielfalt der Formate und ihre Kurzlebigkeit schaffen Probleme, die Objekte verlustfrei wieder anzeigen und reproduzieren zu können. Auch Standards haben einen Lebenszyklus und bieten, denkt man in Jahrhunderten, keine Sicherheit Information in gleicher Form und in gleichem Kontext wieder bereitstellen zu können. Problem Nr. 2: die Speichermedien. Magnetische Medien altern, spezielle digital optische Speichermedien benötigen spezielle Software für den Zugriff und das Auslesen, Informationen können geändert, gelöscht und verschoben werden. Selbst wenn die Information noch unverändert vorhanden ist kann nach einiger Zeit nicht mehr sichergestellt werden, dass der Datenträger auf Grund von Hardware- und Softwareweiterentwicklung noch genutzt werden kann. Problem Nr. 3: die Erschließungsdaten. Es geht nicht nur um die Objekte selbst, sondern auch um ihre Metadaten, d.h. den Inhalt beschreibende und den Zugriff erlaubende Information. Ist die Datenbank, die ein elektronisches Archiv verwaltet, inkonsistent geworden oder selbst nicht mehr nutzbar, ist kein Zugriff auf die archivierten Objekte mehr möglich. Das Archiv wird zum Datengrab. Es ist daher nicht nur das Format und das Speichermedium sondern die Verwaltung der Objekte verfügbar zu halten.
Heute werden schon 10 Jahre Aufbewahrungsfrist für kaufmännische Dokumente in Unternehmen als problematisch angesehen. Reden wir von Langzeitarchivierung, dann sprechen wir von 50, 100 oder 300 Jahren - oder gar von unendlichen Zeiträumen. Das elektronische Archiv ist nicht mehr statisch, es muss durch Migration oder andere Techniken ständig verfügbar gehalten werden – ohne Informations- und ohne Zugriffsverlust. Neue Software und neue Hardware machen einen ständigen Anpassungsprozess notwendig, der sicher und nachvollziehbar sein muss, um die Integrität des Archivs zu gewährleisten. Die Authentizität der Archive wird durch Umkopieren oder gar Transformieren der Formate der Information gefährdet. Dies berührt auch die Frage, was ist ein original, wenn die Datei bereits 10mal seit ihrer Entstehung umkopiert und konvertiert wurde. Die Prozesse der Migration sind ebenso zu dokumentieren und verfügbar zu halten wie die Dokumente und ihre Metadaten selbst. Nur so wird man dem Anspruch eines echten Archives gerecht.
Stellt sich die Frage, was archivieren und warum. Zuerst die gute Botschaft: die beschriebenen Probleme werden in Zukunft gelöst werden – kontinuierliche Migration, verlustfreie Wandlung der Formate, automatisierte Prüfungen der Lesbarkeit der Medien mit automatischer Umschaltung auf eine der elektronischen Kopien, Sicherung vor Verfälschung und Verlust, usw. man muss heute nicht mehr bei der Auswahl von geeigneten Formaten und Medien für die Archivierung in Panik verfallen. Dies wird sich alles regeln. Nur führt dieser Ansatz dazu, dass man neigt, einfach alles zu archivieren, Speicher wird ja immer billiger. Zu einem guten, gepflegten Archiv gehört auch die Aussonderung, die Bewertung der Inhalte. Nicht alles ist archivierungswürdig oder gar -pflichtig und die Strategie einfach alles zu speichern führt zu unkontrollierter Redundanz, der das Wiederfinden von den wichtigen, originalen Dokumenten sogar zum Opfer fallen kann. Archive müssen organisiert und gepflegt werden. Das Vertrauen auf die Erkennung der Inhalte und die Erschließung mit Agenten, Volltextdatenbanken oder Suchmaschinen ist trügerisch. Es wird uns suggeriert, wir könnten alles wieder finden. Aber Kontextinformation, Schutzbedürfnisse vertraulicher Information, die Ermittlung von Zusammenhängen, all dies geht dabei verloren.
Zum Schluss noch eine grundsätzliche Überlegung. Warum bewahren wir überhaupt so viel auf? Betrachtet man die Geschichte der Evolution ist der Mensch bisher das einzige Lebewesen das auf die Bewahrung von Aufzeichnungen wert legt. Die Bereitstellung von Wissen ist einer wichtigsten Wesenszüge der menschlichen Kultur. Ohne diese Bereitstellung und Weitergabe von Information gäbe es unsere Zivilisation nicht. Das Aufbewahren und Bereitstellen von Information scheint uns in unseren Genen verankert zu sein (vielleicht ist es sogar schon im Genom lokalisiert, das Wissensmanagement- und Archivierungs-Trieb-Gen). Das Informationszeitalter stellt uns nur vor neue Herausforderungen: Information und Wissen sind flüchtig geworden stehen aber andererseits jedem jederzeit elektronisch (zumindest theoretisch) zur Verfügung. Die Informationsgesellschaft ist daher eine Gesellschaft die durch die neuen Kommunikations- und Informationstechnologiemöglichkeiten eine neue Dimension erklimmt. Unsere Veranlagung, bedingt die Entwicklung des Menschen selbst, ist hierfür noch nicht angepasst. Unsere Generation lebt so in einer der interessantesten Perioden der Menschheitsgeschichte, dem Wandel der Gesellschaft in nur zwei Generationen. Dies macht man sich selten genug bewusst. Aufgabe unserer Generation ist es, diesen Wandel zu vollziehen und dabei Sorge dafür zu tragen, dass das, was bereits elektronisch generiert wurde, den nachfolgenden Generationen überliefert wird. Ansonsten werden zukünftige Archäologen unsere Zeit als das „dunkle Zeitalter der frühen Informationskultur“ bezeichnen. Unsere Generation hat Probleme mit der Langzeitarchivierung von Information, zukünftige Generationen werden hierüber nur lächeln. Es liegt an uns die in dieser Zeit des Wandels, eines einmaligen Vorgangs in der Menschheitsgeschichte gemessen an der Zeit und Auswirkung des Wandels, für zukünftige Generationen zu bewahren. Hierfür bedarf es Geld und Ressourcen. Die Förderung von Strategien zur elektronischen Langzeitarchivierung ist zu mager, zu zersplittert. Konzertierte Aktionen sind erforderlich, auch wenn uns allen klar sein muss, dass in einigen Millionen Jahren von unserer Zivilisation mit ihren phantastischen elektronischen Wissensmanagement- und Archivsystemen nichts mehr übrig geblieben sein wird – spätestens dann, wenn unser blauer Planet in die sich ausdehnende Sonne stürzt. Auch Langzeitarchivierung findet ein Ende. Das elektronische Medium bietet uns aber selbst dann noch eine „virtuelle Überlebenschance“ weil elektronische Information unabhängig von einem physischen Medium dann vielleicht als letztes Abbild der menschlichen Zivilisation in den Weltraum ausgestrahlt worden ist. (Kff)