Von Professor Dr. Peter Glotz,
Direktor am Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Die technische Entwicklung kann sogar Witze obsolet machen. Über viele Jahre könnte man in meinem Gewerbe gut mit dem folgenden Witz fahren. Man kannte die Utopie vom papierlosen Büro und man kannte gleichzeitig viele Büros, die alles andere als papierlos waren. Man kennt sie im Übrigen auch heute noch. Also konnte man sagen: "Man kann in fortschrittlichen Unternehmen ein Teil der Archivierung von Papier auf Elektronik umstellen. Aber das papierlose Büro bleibt genauso eine Utopie wie das papierlose Klo." Beifall und Gelächter war einem jedes Mal sicher.
Ich bin nicht sicher, ob ich diesen Witz noch oft machen kann. Das Dokumentenmanagement-system von Doku@Web, über das heute hier verhandelt wird, könnte alteingesessene Papierarchive aushebeln. Ich bin kein Fachmann für Dokumentenverwaltung, habe auf Grund der Durchsicht der Unterlagen aber den Eindruck, als ob dieses auf dem Application Service Providing System basierende System ein digitales Dokumentenmanagement ermöglicht, das wichtige Informationen wirklich schnell und ständig verfügbar macht. Dann wäre nicht nur mein Standardscherz überholt, sondern auch der berühmte Satz von Kurt Tucholsky: „Die Basis jeder gesunden Ordnung ist ein grosser Papierkorb". Nun, Tucholsky und ich werden es überleben.
Meine Aufgabe hier und heute ist es aber nicht, über Dokumentenmanagementsysteme zu sprechen. Das können andere besser. Ich bin gebeten worden, das Arbeitsthema dieses Treffens in einen grösseren Zusammenhang zu stellen. Das will ich tun. Denn wir stehen an allen Ecken und Enden vor einer tiefgehenden Veränderung unserer Arbeitsweise, unserer Lebensweise, auch des Wirtschaftens. Wieso eigentlich?
Von der Industrie- zur Informationsgesellschaft
Wir lebten bisher in einer Industriegesellschaft. Das hieß, dass die meisten Menschen mit Stoffbearbeitung beschäftigt waren; dazu war hoher Energieeinsatz notwendig. Jetzt stehen wir mitten in einer raschen Evolution, die viele Menschen eine Revolution nennen. Es ist eine Medienwende wie damals, als die beweglichen Lettern des Johannes Gutenberg unsere Kultur umzustülpen begannen, Eine neue Galaxis; im Zentrum der Computer. Viele technische Instrumente tragen zu dieser Wende bei, Glasfaser-Kabel, Satelliten, Anrufbeantworter, Buchungsautomaten, Videorecorder, Mobiltelefone usw. Der Computer aber integriert alle anderen Medien. Telefon, Fernsehapparat und Personalcomputer werden zusammengeschaltet. Aus dieser Entwicklung ergibt sich Konnektivität. Immer mehr Menschen werden miteinander in einem Netz verbunden. Sie haben Rückkanäle. Eine blitzschnelle Punkt-zu-Punkt-Kommunikation über die ganze Welt wird möglich. Dies wird vor allem unsere Wirtschaftsstruktur vollständig verändern. Wir bekommen eine neue Form der Marktwirtschaft, eine wildere, anarchische, dehnbare, spekulationsgetriebene, weltweit operierende Wirtschaft, Man könnte diesen neuen Kapitalismus den digitalen Kapitalismus nennen. Daraus entsteht ein gewaltiger Produktivitätsschub. Denken Sie an die Landwirtschaft: 3% der Erwerbstätigen produzieren heute mehr (und häufig bessere) Lebensmittel als früher einmal 20 oder 25%. Ganz ähnlich geht das mit der Industrie. Alle Prognosen zeigen uns, dass wir zur Produktion der notwendigen Güter (Stichwort: Stoffumwandlung) nur noch 15% der Erwerbstätigen brauchen werden. Und diese Entwicklung treibt uns über die Schwelle von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft.
Ich belästige Sie jetzt nicht mit den Fachdiskussionen über die Frage, mit welchem Label wir diese neuartige Gesellschaft behängen sollten. Viele sind im Schwange: Eben Informationsgesellschaft, aber auch telematische Gesellschaft, digitale Gesellschaft, Wissensgesellschaft, Kommunikationsgesellschaft. Wichtig ist nur dies: In der Gesellschaft der Zukunft werden mehr Menschen in der Informationsverarbeitung und der Dienstleistung tätig sein als in der Industrie. Und zweitens: Information ist nur ein Rohstoff. Aus der Anzahl der zur Verfügung stehenden Informationen, die sich täglich vermehren, muss Wissen gemacht werden. Diejenigen, die aus Information Wissen machen, nennt man Symbolanalytiker. Sie werden bald rund 20 % der Erwerbstätigen unserer Gesellschaft ausmachen. Und in dieser Gesellschaft werden sich andere Abläufe durchsetzen als in der Industriegesellschaft. Zum Beispiel wird sich die Punkt-an-viele-Struktur, die wir z.B. im Fernsehen kennen, in eine Punkt-zu-Punkt-Struktur verwandeln. Die Menschen legen sich Rückkanäle zu nicht alle Menschen. Wirklich vernetzt sind in Gesellschaften wie Deutschland, der Schweiz, Österreich vielleicht 12%. Aber diese Zahl wird sich schnell steigern. Wenn einmal 30 oder 40% der Menschen vernetzt sind gibt es einen Umschlag der Quantität in Qualität. Noch ist der neue Typus der Gesellschaft, die digitale Gesellschaft - die Wissensgesellschaft nicht erreicht. Ich sage es an einem Beispiel: Obwohl in Deutschland schon seit 3 Jahren die Grundlagen für die digitale Signatur existieren, benutzen nur 7000 oder 8000 Menschen digitale Signaturen. Warum? Man muss sich ein Lesegerät anschaffen, man muss Gebühren zahlen. Das tut man nur, wenn man davon einen wirklichen Gewinn hat. Was müssen Sie zum Beispiel tun, wenn Sie einen neuen Pass oder einen neuen Führerschein wollen? Sie müssen den langen Weg zu ihrem Passamt machen, eine Nummer ziehen, 1,5 Stunden warten, 2 Passbilder und ein unterschriebenes Formular einreichen und dann 14 Tage später noch einmal wieder kommen, um das Dokument abzuholen. In einigen Jahren werden sie das ganze Geschäft online erledigen können. Dann werden sich die Menschen auch Lesegeräte zulegen. Dann wird die digitale Gesellschaft erreicht sein. Aber ich vermute, dass das irgendwann zwischen 2009 und 2014 der Fall sein wird. Wir sind auf dem Weg in die Wissensgesellschaft, in den digitalen Kapitalismus. Aber wir sind dort noch nicht angelangt.
„Die beschleunigte Gesellschaft“
Ich habe die neuartige Struktur dieser digitalen Gesellschaft in meinem Buch "Die beschleunigte Gesellschaft" genau beschrieben. Heute kann ich sie nur mit groben Strichen zeichnen. Hervorheben will ich die folgenden Trends: Diese Gesellschaft wird stärker als unsere von Selbstständigen, sogenannten Selbstbeschäftigten gekennzeichnet sein. Weniger als die Hälfte der Erwerbstätigen werden in Normalarbeitsverhältnissen tätig sein. Die Zahl der Telearbeiter wird wachsen, viel mehr Menschen werden von zu hause mit Modem, Telefon und Personalcomputer arbeiten, die Einbindung in Betriebe und feste Strukturen wird geringer. Das beeinflusst natürlich das soziale Verhalten der Menschen. Sie müssen einerseits unternehmerisch denken lernen, müssen für die eigene Zukunft selbst vorsorgen, können sich weniger auf Vorsorge und staatliche Strukturen verlassen. Das heisst, dass sie ihr eigener Herr sind. Das heisst aber auch, dass sie oft genug verlassen sind. Was folgt daraus: Eine grössere Bedeutung der Ellenbogen oder eine stärkere Einstellung auf Teamarbeit und Kooperation?
Molekularisierung der Gesellschaft
Den zweiten Trend, den ich hervorheben will, nenne ich Molekularisierung. Die wichtigste Veränderung, die die telematische Gesellschaft mit sich bringt, ist ja die grössere Konnektiviät, das heisst also die Intensität der Anbindung an Netze. Diese Konnektivität schafft neue Kombinationsmöglichkeiten. Man kann sich Partner leichter aussuchen; bessere, aber auch billigere. Das führt zu dem, was Dan Tapscott "molekulare Wirtschaftsstrukturen" nennt. "Unternehmen lösen sich in ihre Bestandteile auf und werden zu Clustern kleiner Moleküle, die gut zusammenarbeiten." Ein harmloses Beispiel ist das Journal of Finance, eine wissenschaftliche Fachzeitschrift der USA, das sieben Herausgeber an drei verschiedenen Universitäten der USA hat. Das gab es natürlich auch schon in der industriellen Welt, sogar schon vorher. Nur: Inzwischen befindet sich das Redaktionsbüro wiederum an einem anderen Ort in den USA, der Verleger sitzt in Holland, der Druck erfolgt in Indien, Versand und Rechnungswesen sitzen in der Schweiz. Wo dieses Prinzip auf große Unternehmen übergreift, entsteht eine vollständig neue Architektur: Kleine Kernteams, die mit autonomen Einzelunternehmen (und Einzelunternehmern) kooperieren. Eine weitere Tendenz dieser neuen Phase der Marktwirtschaft nenne ich "Ausdünnung der Mitte". In den Unternehmen der Zukunft verliert das mittlere Management seine klassischen Aufgaben, nämlich Überwachung und Bericht an die Unternehmensleitung. Viele Grossunternehmen geben inzwischen nahezualle wichtigen Informationen innerhalb von 24 Stunden an immer grössere Zahlen an Mitarbeitern, und zwar über ihr Intranet. So zerbricht die alte Hierarchie. Im Klartext heisst das: Die Müllfahrer werden Ihre Jobs behalten. Müll muss auch in der digitalen Gesellschaft abtransportiert worden. Ein Teil des mittleren Managements aber wird überflüssig. Die Hierarchien in den Betrieben werden flacher. Die Verantwortung an vorderster Front wird grösser. Auch das verändert die Ober- und Unterordnungsverhältnisse, die Atmosphäre in den Unternehmen. Wenn ich zusammenfassen sollte, was die digitale Ökonomie kennzeichnet, dann würde ich auf vier Basistrends hinweisen: Dematerialisierung, Beschleunigung, Dezentralisierung und Globalisierung. Dematerialisierung heisst, dass ein grosser Teil der wirtschaftlichen Tätigkeit im digitalen Kapitalismus nicht mehr von der Verwertung von Bodenschätzen, von Stoffumwandlungsprozessen und Energie getragen wird, sondern von der Verwertung von Informationen. Der Weg geht also zur schwerelosen Wirtschaft, wie der englische Soziologe Antony Giddens das nennt. Die hardwareorientierte Gesellschaft verwandelt sich zu einer softwareorientierten, telematischen Gesellschaft. Die wichtigste Grundtendenz der digitalen Gesellschaft ist ohne Zweifel die Beschleunigung, am eindeutigsten symbolisiert im 24-Stunden Geldmarkt. Ein ungeheurer Geschwindigkeitsimpuls geht durch die Informationswirtschaft. Die aktuellen Themen sind "Time Based Management" und "Verkürzung der Entwicklungszeiten. Die Marktpräsenzzeiten der Produkte verkürzen sich spürbar die alten Generationen werden schnell von neuen kannibalisiert. Inzwischen frisst nicht mehr der Grosse den Kleinen, sondern der Schnelle den Langsamen.
Dezentralisierung und Globalisierung
Die dritte Grundströmung heisst Dezentralisierung. Die Erfahrungen der 70ziger und 80ziger Jahre gingen dahin, dass zentrale Wirtschaftsplanung und programm-gesteuerte Rechenprogramme komplexe Probleme nicht lösen konnten. Viele Programme scheiterten bei zentraler Steuerung an ihrer Komplexität und ihrem Vernetzungsgrat. Plötzlich aber sitzen die Leute an kleinen Personalcomputern, just in time Produktion und Outsourcing sind die Stichworte. Der alte, organisierte Kapitalismus wird aufgeräufelt. Neben die alte Welt (die es natürlich immer noch gibt) tritt eine Neue. Bleibt als vierte Grundtendenz die viel beredete und beschwätzte Globalisierung, eine Entwicklung, die die avancierten Gesellschaften tief beeinflusst. Das Zauberwort heisst Arbitrage, Umgehung. Der digitale Kapitalismus beruht immer mehr auf der Ausnutzung von Unterschieden bei Wechselkursen oder Zinsen. Steuerdumping wird möglich. Grosse Unternehmen bewegen sich dorthin, wo sie die günstigsten Bedingungen finden. Die internationale Kommunikation wird vielfältig verstärkt. Schwellenländer, zum Beispiel solche mit guten Bildungssystem und niedrigen Löhnen (Indien) bekommen neue Entwicklungschancen. Die langsamen, korporatistischen, europäischen Grossgesellschaften allerdings können erhebliche Wettbewerbsprobleme bekommen.
Interaktiver Media-Mix
Was also passiert? Der Computer wird das Medium der Medienintegration. Die Endgeräte Telefon und Fernsehen werden miteinander vernetzt. Es geht um die Vernetzung von Schulen und Ausbildungsstätten, von Hochschulen und Bibliotheken, von Arztpraxen und Krankenhäusern. Der kommunizierende Mensch im Media-Mix, der in einer digitalen Welt Botschaften und Meinungen austauscht, lehrt und lernt, sich unterhält, anbietet, kauft, bezahlt, arbeitet und Geschäfte macht, lebt anders, kann jedenfalls anders leben als die couch potato die sich nur von Sendezentralen bestrahlen lässt. Viele Aktivitäten des Menschen werden sich ändern: Sortieren, speichern, kommunizieren, arbeiten, lehren/lernen, politisieren, administrieren, heilen, kaufen. bestellen, buchen, fahren, transportieren, sich bewegen, aber auch spielen, sich zerstreuen. Die Anwendung der Interaktivität auf das Erziehungswesen, die Arbeitswelt, die Medizin oder die tägliche Lebensbewältigung (Teleshopping, Telebanking) werden die Gesellschaft grundlegend verändern.
„The biggest myth of the New Economy“
Vor einem möchte ich allerdings warnen - sich einzubilden, dass die "New Economy" neue ökonomische Gesetze hervorbringt. Das ist ja die These mancher ihrer Verfechter- Ich zitiere die FAZ: Die Kernidee der Verfechter der New Economy ist, dass der technische Fortschritt die zunehmende Vernetzung der Welt und der damit verbundene Rückgang der Transaktionskosten einen Anstieg der Produktivität und des weltweiten Wettbewerbs zur Folge haben. Da die Markteintrittsbarrieren in dieser vernetzten Welt gering seien, nähere sich der Wettbewerb auf den Gütermärkten zunehmend dem klassischen Ideal der vollkommenen Konkurrenz. Die Folge dieser Entwicklung sei der Tod der Inflation. und das Ende des Konjunkturzyklus. Steigende Beschäftigung mit geringeren Inflationsraten, so glauben sie, werden die Notenbankchefs gut schlafen lassen."
Das sind krause Ideen. Die Märkte werden auch im Zeitalter des Internet nicht vollkommen sein. Sinkende Transaktionskosten schaffen noch keine vollkommene Konkurrenz. Übrigens ist ein grösserer Markt auch ein unübersichtlicherer Markt, in dem man bei der Selektion von Information viel mehr investieren muss.
Wird es keine Inflation mehr geben? Inflation ist auch ein monetäres Problem. Ein Anstieg der Geldmenge, der über das Wachstumspotential das Sozialprodukts hinausgeht, wird auch in der Zukunft Inflation nach sich ziehen. Und auch mit der Verabschiedung des Konjunkturzyklus sollte man vorsichtig sein. Warum sollen Lagerhaltungszyklen, Prognoseunsicherheiten oder Zeitverzögerungen sowie Koordinationsschwierigkeiten zwischen Produzentenentscheidungen und Konsumentenentscheidungen im Zeitalter der digitalen Ökonomie gänzlich der Vergangenheit angehören? Nein, all diese angeblich radikalen Neuerungen sind nichts als ein gewaltiger Mythos. Das gilt im übrigen auch für den sogenannten Netzwerkeffekt- David S. Bennahum, Partner eines grossen Incubators in New York nennt diesen Netzwerkeffekt sogar "the biggest myth of the new economy". Auch bei einem Netzwerk werden zuerst die wichtigsten Knotenpunkte miteinander verbunden. Die Vernetzung zweier Finanzmetropolen hat einen anderen Stellenwert als eine Netzwerkverbindung zwischen einem Bergdorf im Allgäu und einer amerikanischen Kleinstadt. Oder in den Worten von Bennahum: "At the end of the day Cashflow is Cashflow".
Internationalisierung der Kommunikation
Ich fasse zusammen. Was wird die digitale Ökonomie an neuen Trends bringen? Das Grundphänomen ist eine Verdichtung und Internationalisierung der Kommunikation, eine engmaschige Vernetzung grösserer Teile der Welt. Die neue Leichtigkeit und Geschwindigkeit der Verbindungen schafft neue Wertschöpfungsketten, neue Welthandels-Strukturen, eine bisher unbekannte weltweite Preistransparenz und einen neuen Typus des Unternehmens, den eher kleinen, schnellen, beweglichen Player. Die Selbständigkeit wird wachsen. Der E-Commerce wird viele alte Intermediäre verdrängen und schon in wenigen Jahren zwischen sechs und zehn Prozent des Gesamthandels ausmachen. Völlig neue Geschäftsmodelle werden entstehen. Der neue Kommunikationsstil verändert das Aggregatzustand der Marktwirtschaft. Der digitale Kapitalismus ist etwas anderes als der Industriekapitalismus. Zum Beispiel entwickelt sich eine Renaissance des unternehmenden Unternehmers, eine Kultur der Brinkmanship, des Wagemuts, der spekulierenden Vernunft. Diese affiziert stark wachsende Minderheiten der Gesellschaft- Stock-Options werden vielen Menschen wichtiger werden als Mitbestimmung, Aktien interessanter als Kommunalobligationen. Die Führung der avancierten Gesellschaften übernimmt eine globale Elite die viele Wochen Im Jahr im Flugzeug sitzt, als Lingua-Franca Englisch benutzt und deren Modus vivendi "any time - any place" heisst. Was also ist typisch für den digitalen Kapitalismus?
„E-Business or Out-of-Business ?“
Zuerst eine globalisierte Wirtschaft, der keine globalisierte Politik gegenübersteht. Das heisst, dass diewirtschaftlichen Eliten stärker, die politischen Eliten schwächer werden. Die Börsen bekommen eine zentrale Stellung. In bestimmten Sektoren werden Zukunftsversprechungen höher gehandelt als Sachwerte. Das bringt Marktkapitalisierungen mit sich, die wir bisher nicht gekannt haben, damit auch neue Währungen für Übenahmen und Käufe. Unfriendly take overs (wie im Beispiel Vodafon Mannesmann) werden vielleicht nicht zum Alltag, wohl aber zu einer selbstverständlichen Möglichkeit. Das Klima wird rauer. In dieser Phase des Kapitalismus wird mehr geleast als gekauft, mehr gemietet als angeschafft. Die Sachwerte treten zurück. Das heisst allerdings nicht, dass Eigentum keine Rolle mehr spielt, wie Jeremy Rifkin in seinem Buch "The Age of Accessu" behauptet. Auch wer mietet oder least, muss Verfügungsrechte haben. Und sie werden ungleicher verteilt sein als in der Vergangenheit. Die neue Ökonomie ist im übrigen nur ein begrenzter Sektor der getarnten Wirtschaft. Nehmen sie das Beispiel Deutschland: Die am neuen Markt registrierten Unternehmen haben nicht mehr als 120'000 Beschäftigte. Nun gibt es den schönen Satz des Vorstandsvorsitzenden von Cisco, John Chambers, seine Formel lautet "E-Business oder out of Business". Das ist der Hinweis darauf, dass sich auch die Incumbents, die grossen, alten Unternehmen auf die Netzwerkökonomie umstellen müssen. Lufthansa und Siemens sind längst dabei. Siemens treibt zum Beispiel den Aufbau seines elektronischen Geschäfts mit Investitionen von knapp 2 Milliarden allein in den nächsten 18 Monaten voran. Man will Einsparungen von 1-2% des Jahresumsatzes von 150 Milliarden erreichen. Beim Einkauf sollen große Kostenvorteile herausgeschunden werden. Auch Forschung, Entwicklung oder Logistik sowie das Gewinnen neuer Mitarbeiter soll über das Internet laufen. Früher galt die selbstironische Aussage: Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß". In Zukunft soll eine Datenbank-Suchmaschine helfen, Lösungen für technische Probleme im Konzern weltweit auszutauschen. Dies heißt, dass sich die Grenzen zwischen der neuen und der alten Ökonomie verwischen werden. Eine neue Phase der Wirtschaftsgeschichte beginnt.
Euphorie und schwarzer Pessimismus
Euphorie und schwarzer Pessimismus lösen sich als Grundstimmung der Massenkommunikation zu wirtschaftlichen Fragen rasch ab. Im Jahr 1999 und Anfang des Jahres 2000 konnte man lesen, die Neue Ökonomie bringe neue wirtschaftliche Gesetze mit sich; so würden die Inflation und dar Konjunkturzyklus verschwinden. Die Luft schwinde von den Nachrichten über unfriendly takeovers (Vodafone - Mannesmann, Olivetti - Telecom Italia) und großen Mergers (Daimler Chrysier). Nach dem Zusammenbruch der Börsen im März und Oktober des Jahres 2000 erleben wir nun den entgegengesetzten Trend. Der Zusammenbruch verschiedener dot-coms wird so gedeutet, als ob die Neue Ökonomie eine reine Fata Morgana gewesen sei. Die Manager, die sich auf große Akquisitionen und Mergers eingelassen haben, werden inzwischen allzu oft als Größenwahnsinnige und machtgierige Versager dargestellt. Schwärmte man vor einigen Monaten noch von einer vollständig neuen "Aktienkultur", ertönt die Welt inzwischen wieder vom Lob der Kommunalobligationen.
Zwischen „E-Success“ und „E-Ruin“
Angesichts dieses (hysterischen) Auf und Ab ist Nüchternheit am Platz. Die sagt einerseits: Natürlich ist strategisches E-Commerce Management eine Grundvoraussetzung für langfristige Erfolge. Aber E-Success erscheint dann doch wahrscheinlicher als E-Ruin. Die Neue Ökonomie war weder ein Schwindel noch eine bloße Stimmung. Die Senkung der Transaktionskosten, die Steigerung der Preistransparenz, die Netzwerkeffekte und Kostenvorteile des E-Commerce haben das Wirtschaften verändert. Von John Chambers, dem CE0 von Cisco stammt der Satz: "E-Business or out of business." Immer mehr Unternehmen richten sich nach dieser Maxime und zwar gerade Unternehmen der alten Ökonomie. Ein gutes Beispiel sind die hohen Investitionen von Siemens, einem nun weiss Gott nicht leichtfertig modernistischen Unternehmen, in den E-Commerce. Was sich also andeutet ist eine Korrektur und Bereinigung der Szene. Natürlich wird nur ein kleiner Prozentsatz der vielen Start-up Unternehmen langfristig überleben; das war in früheren Zeiten (man denke an die grosse Zahl von Autounternehmen vor einigen Jahrzehnten) auch nicht anders. Sterben werden vor allem die, die sich auf "neue ökonomische Gesetze" kaprizierten und alte Prinzipien in den Wind schlugen. Eines dieser Prinzipien hat David S. Bennahum, Manager eines Incubators in den Vereinigten Staaten, schlagend formuliert: "At the end of the day, cashflow is cashflow". Eine endgültige Prognose über die Zukunft der digitalen Ökonomie ist unmöglich. Allan Greenspan, der Präsident des Federal Reserve Board in den Vereinigten Staaten, sprach im Jahr 1996 einmal von "Irrational Exuberance", der Yale Ökonome Robert J. Shiller hat daraus einen Buchtitel gemacht. Er weist nach, dass das Kurs-Gewinn-Verhältnis im Januar 2000 44.3 erreichte, den absolut höchsten Wort, der je gemessen wurde. Am nächsten kam dem nur der September des schrecklichen Jahres 1929, in dem die Börsen zusammenbrachen. Damals erreichte das Kurs Gewinn-Verhältnis den Wert von 32.6. Shiller weist historisch nach, dass es nach vergleichbaren Höchstständen immer zu langen Dürreperioden an der Börse kam. Seine Folgerung lautet deshalb: "Die Aussichten für die nächsten zehn oder zwanzig Jahre sind eher verhalten - wenn nicht düster. Die amerikanische Börse (und nicht nur die amerikanische) weise derzeit die klassischen Merkmale einer Spekulationsblase auf. Die Kurse würden eher von der Begeisterung der Anleger denn von einer realistischen Einschätzung des tatsächlichen Wertes vorübergehend hochgehalten. Dieser substanzlose Optimismus müsse zusammenbrechen. Dieser Prognose mag man folgen oder nicht; sarkastische Beobachter neigen zu der berühmten Sottise, dass Prognosen immer schwierig seien, besonders wenn es sich um die Zukunft dreht. Unabhängig von solchen Gesamteinschätzungen gibt es durch die digitale Technologie aber handfeste Änderungen, von neuen Erlös- und Preismodellen bis zu den Virtual Communities, von der Auflösung traditioneller Geschäftsmodelle und traditioneller Kommunikations- und Transaktionsbeziehungen bis zur Entwicklung des Mobile Commerce. Die neue Ökonomie bringt keine "neuen ökonomischen Gesetze". Wer aber aus faulem Traditionalismus glaubt, er könne weitermachen wie vor 1995, wird in vielen Branchen scheitern.
Auf dem Weg zu „Virtual Communities“
Ich kann also, um zum Schluss zu kommen, nicht dazu raten, so zu tun, als finde die digitale Revolution nicht statt, weil im Jahr 2000 die Nasdaq und der neue Markt zweimal heftig kollabierten und weil die unrealistischen Marktkapitalisierungen von Internet-Unternehmen korrigiert (und gelegentlich auch bis zur Unterbewertung getrieben) wurden. Richtig, die Zeiten sind vorüber, in denen es genügte, einen auf dem Internet basierenden Businessplan vorzulegen; und schon konnte man sich vor Venture Capitals nicht mehr retten. Wenn das Geschäft nicht florierte, korrigiere man mit teuren Marketing-Massnahmen den Geschäftszweck. So funktioniert auch die Wirtschaft der Zukunft nicht. Man braucht eine Vision, einen klaren Fokus, ein funktionierendes Geschäftsmodell und Disziplin. Unsere Gesellschaft wird von analog nach digital umgestellt, wir sind auf dem Weg zu einer digitalen Kultur. Das verlangt im Übrigen die entsprechende Medienkompetenz bei allen Menschen, die beruflichen Erfolg in dieser Gesellschaft haben wollen. Es verlangt auch die Bereitschaft zu lebenslanger Weiterbildung, die Fähigkeit zum Complexity Management, also zur Bewältigung von Komplexität und die Fähigkeit zur Selbstdarstellung, zur Kommunikation. Deswegen werden sich zum Beispiel die Universitäten ändern müssen. Die meine, St. Gallen, tut das gerade. Basic Skills wie Kommunikationsfähigkeit sind eben keine verachtenswerten Kunstlehren für Volkshochschulen, sondern sind auf einer Universität genauso angebracht wie die Max-Weber-Forschung. Universitäten müssen in der Lage sein, massgeschneiderte Kurse für 20 Manager eines ganz bestimmten Unternehmens durchzuführen, sie dürfen sich nicht nur auf Erstausbildung beschränken. Das alles verlangt tiefgehende Änderungen. Solche tiefgehenden Änderungen sind aber auch für viele Unternehmen veranlasst. Keineswegs nur für Start-Ups, für neue Unternehmen. Die neue Wirklichkeit betrifft auch viele Unternehmen der Old Economy. Noch ist die neue, die digitale Gesellschaft nicht da. Ich wiederhole meine Prognose: Ihre volle Wirksamkeit wird sie zwischen 2009 und 2014 entfalten. Auf diese Zeit aber gilt es, sich vorzubereiten.
Sofort.
Sozusagen ab heute.
(Anm. der Redaktion: Die Einfügung der Zwischenüberschriften erfolgte durch PROJECT CONSULT. Der Text ist ohne Kürzungen wiedergegeben).