Was bleibt von ECM?
Kaum hat sich der Begriff Enterprise Content Management und sein Akronym ECM auch in Deutschland durchgesetzt - von DMS Dokumentenmanagementsystem spricht auch hierzulande kaum noch einer – schon ist ein Trend erkennbar, der den Begriff bald überflüssig machen wird: ECM geht im allgemeinen Informations-manage-ment auf. Komplette Suiten, die alle Komponenten von ECM - Capture, Manage, Store, Deliver und Preserve – abdecken, sind bei den großen Anbietern keine Seltenheit mehr. Mit ECM 2.0 werden auch moderne Web-Technologien in die Portfolios aufgenommen. Unter der Haube von SOA Service Oriented Architecture kommt die längst fällige Modularisierung. Große Anbieter von Standardsoftware machen ECM immer mehr zum Allgemeingut und zur Infrastruktur. Dabei gewinnt man den Eindruck, dass Enterprise Content Management Opfer seiner eigenen Vision wird. Ein grundlegendes Ziel von ECM war immer die Zusammenführung von schwach- und unstrukturierten Informationen mit strukturierten Daten. Dieses Ziel ist mit der Zeit in Sichtweite gerückt; damit wird aber auch das Profil von ECM immer undeutlicher. ECM sind immer weniger sichtbare Einzelsysteme, vielmehr wandelt sich ECM zu Services, Komponenten, Infrastruktur und „Enabling-„Modulen und rückt damit immer weitere in den Hintergrund – weg vom Desktop des Anwenders. ECM überlappt immer mehr mit angrenzenden Bereichen der ITK und wird Teil des allgemeinen Informationsmanagements. Damit verliert die Branche langfristig ihre Alleinstellungsmerkmale; stellt sich die Frage, wie es mit der Branche weitergehen wird. Zunehmend werden sich die unter dem Dach von ECM zusammengefassten Komponenten wieder lösen und eigenständige Bereiche bilden: WCM, DAM, Collaboration und Web 2.0 werden in einem Bereich aufgehen; Workflow und Business Process Management spalten sich ab und integrieren sich mit BI Business Intelligence; Output-Management war nie wirklich in ECM integriert und wird eine eigenständige Branche bleiben; Records Management gewinnt an Bedeutung, gerade vor dem Hintergrund der GRC Governance, Risk Management & Compliance Initiativen; das traditionelle Dokumentenmanagement wird standardmäßig in alle Office- und Kommunikationsplattformen integriert sein; auch die „Preserve“ Komponente wird sich als echte „Langzeitarchivierung“ von ECM abnabeln. Der Bereich DRT Document Related Technologies wird im Gegensatz zu ECM überleben, weil es immer Technologien geben wird, die sich speziell mit den Anforderungen elektronischer Dokumente beschäftigen müssen.
ECM und Darwin
Geht man mit dieser Anschauung, ECM verschwinde als IT-Disziplin, an den Markt heran, dann stellt sich sofort eine Assoziation zur Evolution der Arten ein. Darwinismus ist ja modern, auch wenn er heute hart gegen Fundamentalisten in allen religiösen Lagern verteidigt werden muss. Die Frage ist also, lassen sich die Prinzipien der Selektion, des Survival of the fittest auch auf einen Softwaremarkt übertragen? Einerseits, andererseits. Die Software entwickelt sich weiter. Sie wird immer besser an die Anforderungen der Umwelt, der Anwender angepasst. Falsch, hier geht es schon los. Bei manchem Softwareprodukt scheint das Thema Usability ohne nennenswerte Eindrücke vorbeigezogen zu sein. Software ist heute mit Funktionalität überfrachtet, die niemand braucht. Manches stört aber auch nicht, da viele Funktionen einfach so versteckt werden, dass man sie im Bedarfsfall erst gar nicht erreicht. Also ein klassischer Fall für das Aussterben einer Art? Auch dies passiert nicht. Seltsamerweise setzen sich auch hier Unternehmen mit Produkten durch, die weder gut noch sicher, noch funktional, noch billig sind. Hier funktioniert offenbar die Auslese nicht. Anders bei den kleinen nachstrebenden Firmen, die gern gefressen werden. Bei der Verdauung kommt dann aber selten eine Anreichung des eigenen Erbgutes heraus, sondern auch nur Mist. Nun ja, Auffressen hat ja auch wenig mit Evolution zu tun, eher mit der Nahrungskette. Und gäbe es keine kleinen innovativen Firmen, die man auffressen kann, dann müssten ja wieder die großen Anbieter selbst was Gutes erfinden. Dies dauert aber häufig so lange, dass es dann kein Anwender mehr haben will. Irgendwie klappt es mit der Analogie ECM und Darwinismus überhaupt nicht. Aber wie sieht es denn mit der Gegenseite aus. Beim Thema Religion sieht es schon viel besser aus (glaubt einer an unnatürliche Erscheinungen, dann gilt er als verrückt; glauben viele an unnatürliche Erscheinungen, dann ist es Religion … oder so ähnlich). Wir glauben den Anbietern ihre Roadmaps. Allen ernstes investieren Anwender Geld, weil Ihnen ein Anbieter eine schöne Powerpoint-Präsentation gezeigt hat. Angesichts der Entwicklungsgeschwindigkeit von ITK und der Konvergenz der Technologien ein wahrhaft waghalsiges Unterfangen, das einiges an Gläubigkeit erfordert. Wir glauben den Anbietern, dass die auf der Messe gezeigte Software auch bei uns zu Hause problemlos funktioniert. Nun gut, jeder kennt selbst Softwareprojekte und da auch die Anbieter von Software selbst Software einsetzen sind sie auch gleichermaßen Mitglieder der Leidensgemeinschaft. Übrigens sollten Hersteller und Integratoren außer den Produkten die sie integrieren und verkaufen auch noch parallel Google, Microsoft, SAP, Lotus und OpenSource einsetzen - sozusagen als Penetentia für all ihre Sünden der Vergangenheit. Regiert uns also in Bezug auf das Thema ECM-Software eher das Bauchgefühl, der Glauben? Sind hier die Gesetze der Naturwissenschaft außer Kraft gesetzt? Auch hier kann man wieder sagen – ECM ist Enterprise Change Management.
Wissensmanagement 42.0
Nachdem wir uns Darwin erfolglos zugewendet haben (zumindest in dieser sehr oberflächlichen Betrachtung), werfen wir noch einmal einen Blick auf das Thema Wissensmanagement. Auf der CeBIT wird es auch eine Session zu Knowledge Management 2.0 geben (… was ist denn heute eigentlich nicht 2.0?). Die Begriffe Wissen und Wissensmanagement haben eine lange Geschichte, die Aristoteles unterschied zwischen theoretischem "Wissen, dass ..." und praktischem "Wissen, warum ...“, Sokrates meinte “Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen...“. Aus Sicht der Hermeneutik diskutieren Gadamer und Heidegger Vorverständnis und Vor-Urteil. Popper und Kuhn gehen wissenschaftstheoretisch mit Vermutungen und Paradigmen an das Thema heran. Und Luhmann definiert konstruktivistisch die Grundlagen des Wissens mit Information, Mitteilung und Verstehen sowie Beobachterbezogenheit des Wissens. Alle anderen, die auch noch etwas dazu geschrieben haben, lassen wir einmal weg und konzentrieren uns auf das Wesentliche – was ist allen gemeinsam. Alle gehen vom menschlichen Verständnis von Wissen aus. Dass dies nicht immer sinnvoll ist, zeigten schon die vergeblichen Bemühungen der künstlichen Intelligenz in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Der Mensch und seine Auffassung von Wissen, von Wissensmanagement sind der Maßstab – das muss man sich einfach bewusst machen. Probst, Raub und Romhardt sehen daher auch Wissen als typisch menschlich an: „Wissen wird von Individuen konstruiert und repräsentiert deren Erwartungen über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge.“ Entwicklungsgeschichtlich, und damit sind wir doch wieder bei Darwin, hat der Mensch nur ein ganz kleines Wahrnehmungsfenster, begonnen beim Farbspektrum des Sehens bis hin zur Annahme, die frei-fliegenden Atome eines Steines seien feste Materie. Annahmen, die uns helfen die Welt zu verstehen. Ein sehr schmales Fenster, das die Evolution geschaffen hat, damit wir mit der Welt zu Recht kommen. Diese Fenstersicht wenden wir im Prinzip auch beim Thema Wissensmanagement an. Werfen wir einen Blick auf all die schönen neuen Technologien wie automatische Klassifikation, semantische Netze, selbstlernende Systeme, Profiling, Matching, Monitoring usw. Wir bringen Software Dinge bei, die uns Menschen das Verstehen der Welt erlauben – Hören, Sehen, Lesen, Kombinieren. Mit RFID, Robotik und anderen Technologien tritt die Software aus ihrem Silikonkäfig in das reale Leben. Mit der wachsenden Menge der Information und den Erschließungstechnologien, die uns Wissensmanagement- und Web-2.0-Software verheißen, bildet sich in den Softwaresystemen eine eigenständige Perzeption der Begriffe Wissen und Wissensmanagement heraus. Wir merken dies nur noch nicht, weil wir an das Thema mit unserem engen Fensterblick, mit unserer Auffassung von Wissen und Wissensmanagement herangehen. Softwaresysteme beginnen aber bereits heute durch Vernetzung, Abgleich, Austausch, Wertung, Nutzungsbeobachtung und andere Mechanismen eine eigene, andere Art von Wissensmanagement zu etablieren. Erst wenn wir uns von unserem Begriff des Wissens lösen, werden wir das Entstehen dieser neuen Form des Wissensmanagement erkennen. Es ist an der Zeit, maschinengerechte, softwaregerechte Definitionen für Knowledge Management zu finden. (Kff)