Keynote-Vortrag von Dr. Ulrich Kampffmeyer, Mitglied des Vorstands und des Executive Committee der AIIM Europe, auf dem DOMEA Anwenderforum in Bonn am 11.11.1999. Teil 1 (der zweite Teil des Vortrages erscheint im Newsletter 20000113Newsletter 20000113) Einführung
Um einen Markt betrachten zu können, muß man ihn zunächst definieren. Betrachtet man klassische Produktkategorien wie elektronische Archivierung, Groupware, Dokumenten-Management im engeren Sinn oder Workflow, wird dies immer schwieriger. Die Zeiten des Nischenmarktes sind vorbei.
Die Veränderungen im Markt für Dokumenten-Management lassen sich unter verschiedenen Gesichts-punkten betrachten. Diese Gesichtspunkte sind die Technologien, die Unternehmen, die An-wender und die Menschen, die diesen Markt prägen. Technologisch gesehen gibt es nicht soviel Neues. Die DMS`99 hat es deutlich gezeigt. Zahl-reiche angekündigte Innovationen entpuppten sich bei genauerem Hinsehen als ein „Facelifting“ vorhandener Software, die als neue Version auf den Markt gebracht wurde. Abgesehen von einigen speziellen Gebieten hat man eher den Eindruck, daß die Innovationen heute von anderen Trends angetrieben werden. Hier sind an erster Stelle die Internet- und Telekommunikationslösungen zu nennen. Bei den Anbietern schreitet die Konso-lidierung voran. Die Anzahl echter eigenständiger Produkte hat sich in den letzten 12 Monaten stark verringert. Zahlreiche Unternehmen mußten auf-geben oder wurden vom Markt aufgekauft. Markt-forscher prognostizieren jedoch einen Aufschwung nach der Euro-Umstellung und dem Jahr-2000-Wechsel. Inzwischen ist bei den Abbietern sogar Optimismus aufgekommen, daß sich die Prognosen bewahrheiten. Dies gilt besonders für diejenigen Anbieter, die sich mit effektiven Lösungen, einer ausreichenden Anzahl von Installationen und einer ausgewogenen Preispolitik einen festen Platz am Markt erkämpft haben. Bei den potentiellen An-wendern ist das Wissen um Effizienz und Notwen-digkeit von Dokumenten-Management-Lösungen in-zwischen weit verbreitet. Die „Missionars-Tätigkeit“ des Aufbaujahrzehnts trägt ihre Früchte. Dies zeigt sich z. B. in dem nachlassenden Interesse an Kongressen und Einführungsseminaren wie auch bei der gesteigerten Qualität der Anfragen. Als sehr positiv für Anwender und Anbieter hat sich die Bereit-stellung von vertikalen Fachanwen-dungen heraus-gestellt. Der Trend geht weg von „leeren“ Pro-dukten zu vorbereiteten Branchen-lösungen. Weder Anbieter noch Anwender müssen jedes Mal „das Rad neu erfinden“. Dennoch steigen die Anfor-derungen der Anwender bezüglich tie-ferer Inte-gration der Produkte in andere Software-umge-bungen.
Der nächste Punkt betrachtet die Menschen, die den DMS-Markt prägen. Man kann einen Markt oder auch eine Branche durch die Personen definieren, die das Marktgeschehen bestimmen. Es ist nicht nur ein Zeichen guten Marketings, sondern auch ein Zeichen der Maturität des Marktes, wenn immer die gleichen Persönlichkeiten genannt werden. Viele von ihnen waren oder sind inzwischen über ein Jahrzehnt dabei und haben das geprägt, was wir heute in Deutschland als Dokumenten-Manage-ment-Markt kennen: Norbert Neumann, Markus Hanisch, Hans Strack-Zimmermann, Gert Reinhardt, Thomas Wenzke, Thomas Schneck, Gerhard Klaes, Hartmut Storp - um nur einige zu nennen. Gerade in Zeiten der Veränderung, wo Unternehmen und Produkte auftauchen und ver-schwinden, wo Produktreleasezyklen auf weniger als ein Jahr gefallen sind, sind es die Persönlichkeiten, die die größte Kontinuität be-wiesen haben. Dies ist in unserem Marktsegment von besonderer Wichtigkeit – Sicherheit und Konti-nuität. Es geht nicht um eine Textverarbeitung oder ein E-Mail-Programm, das man kurzfristig aus-tauscht oder updatet. Es geht um die Erschließung und langfristige Bereitstellung von Informationen. Im Umfeld des Dokumenten-Management und der elektronischen Archivierung sprechen wir von Jahrzehnten. Kaum eine Kunde-Anbieter-Bezie-hung ist so symbiotisch wie diejenige, in der einem System das Wissen des Unternehmens anvertraut wird. Erkki Liikanen, der neu ernannte Kommissar der Europäischen Kommission für Unternehmen und Informationsgesellschaft, hat es in deutliche Worte gefaßt: „elektronische Archive sind das Gedächtnis der Informationsgesellschaft“.
Dieses „Gedächtnis“ bereitzustellen ist nicht ein-fach, weil von der Dokumenten-Manage-ment-In-dustrie ein gewaltiger Spagat gefordert wird.
Einerseits muß Hard- und Software immer dem neuesten Stand entsprechen, Dokumenten-Manage-ment-Funktionen sollen in allen möglichen und unmöglichen Programmumgebungen eingebunden sein, sie sollen jederzeit an sich verändernde Struk-turen, Abläufe und Inhalte angepaßt werden können, die Information soll möglichst ohne mensch-liches Zutun unverzüglich am Bildschirm er-schei-nen – immer vollständig, immer richtig und immer situationsgerecht. Andererseits fordern die Anwender aber auch mit gleichem Nachdruck, daß Daten und Dokumente 10, 30, 50, 100 oder mehr Jahre zur Verfügung stehen. Auch bei Veränderung der Systemumgebungen und Software immer lesbar und möglichst originalgetreu reproduzierbar. Diesen Spagat können sich die wenigsten Anbieter leisten. Letztlich ist dies auch einer der Gründe, warum es beispielsweise von Microsoft keine Archi-vierungssoftware gibt. Microsoft würde sich da-durch den Weg verbauen, alle drei bis vier Jahre seine Strategien für Bereitstellung, Speicherung und Verarbeitung von Informationen zu ändern. Doku-menten-Management, elektronische Archi-vierung und Workflow wurden zunächst von kleineren, innovativen Unternehmen voran-getrieben. Die großen Software- und Systemanbieter haben mit eigenen Lösungen lange auf sich warten lassen. Betrachtet man die Anzahl aller Programmierer sämtlicher Anbieter im Umfeld von Dokumenten-Management, so sind dies insgesamt immer noch weniger, als bei einem der großen Standard-software-Anbieter beschäftigt sind. Die Risiken für Anbieter und Anwender, die sich aus den ver-fügbaren Ressourcen, der Marktdurchdringung und der Unternehmensgröße ergeben, erfordern eine Konsolidierung des Marktes für Dokumenten-Management. Letztlich kann nur eine Handvoll ausreichend großer Unternehmen mit ihren Produkten überleben.
Convergence of Technologies
Eine Reaktion auf den Wettbewerbsdruck, die Kundenanforderungen und die neuen Techno-logien ist die Ausweitung der Funktionalität der Produkte. Gab es früher spezialisierte Lösungen für Listenarchivierung, Faksimilearchivierung, Docu-ment Management im engeren Sinn, Workflow etc., so fließen heute die Merkmale dieser Produkte in einander über und werden zudem um Funktionen aus dem Umfeld der Büro-kommunikation ergänzt. Man bezeichnet dies im Englischen als „Con-ver-gence of Technologies“.
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| · | Die Trennung der Disziplinen ist aufgehoben |
Es ist heute kaum noch eine strenge Trennung der liebgewordenen Produktkategorien möglich. Dies macht es auch für die Marktforscher schwierig, für einzelne Marktsegmente saubere Zahlen zu ermit-teln. Die Funktionalität von Workflow wird um Archivierung und Dokumenten-Management er-gänzt, E-Forms entwickelt sich zu Workflow, Workflow integriert Archivierung, Archive werden ergänzt um Multimedia-Funktionalität usw. Ziel dabei ist die Unterstützung des gesamten Lebens-zyklus von Dokumenten, die Erfassung, Bearbei-tung und Darstellung aller Formen von Doku-menten, Daten und Objekten. Hinzu kommt die Berücksichtigung aller denkbaren Kontroll-, Weiter-leitungs- und Steuerungsfunktionalität. Funktionen, die früher eigenständige Anwendungen waren, wie z. B. Fax, E-Mail, Textdatenintegration, Textbau-steinverwaltung, Group-ware-funktionalität usw. Be-sonders deutlich wird dies bei den sogenannten Produkt-Suiten, wo alle Funktionalität aus einer Hand angeboten wird. Typische Vertreter dieser Gattung sind z. B. IBM, FileNET, Tower, PcDOCS, Optika und andere. Leider birgt jedoch auch dieser Ansatz Risiken. Zum einen läßt die Integrationstiefe häufig zu wünschen übrig oder muß individuell, projektorientiert und aufwendig hergestellt werden, zum anderen werden die Produkte immer über-dimensionierter. Hier drohen fast schon Verhält-nisse wie bei den üblichen Textverar-beitungs-programmen, von denen man auch höchstens 20% der Funktionalität nutzt. Durch die ständige Aus-weitung des Funktionsumfanges begibt sich die Dokumenten-Management-Branche zudem in den Wettbewerb mit Anbieter von Standardsoftware, sei es für Groupware, Unified Messaging, ERP, Büro-kommunikation oder Office-Lösungen. Der Anwen-der steht hier häufig vor der Frage, welches ist denn nun das geeignete Desktop-Programm, mit dem ständig gearbeitet werden soll – die Bürokom-munikation wie z. B. Lotus Notes oder Outlook, das ERP-Programm wie SAP oder Peoplesoft, die spe-zielle Branchenanwendung oder aber ein Doku-menten-Management-System.
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| · | Die Eigenständigkeit verschwindet |
In den „guten, alten Zeiten“, als in der dominierenden Rechnerwelt noch keine „Images“ angezeigt und keine elektronischen Archive direkt angeschlossen werden konnten, wurden Doku-men-ten-Management-Systeme als die Hauptanwendung oder unabhängige, eigen-ständige Lösung einge-setzt. Durch den PC, das LAN, die Integration mit herkömmlichen Hostsystemen und nicht zuletzt das Internet ist dies nicht mehr erforderlich. Die tech-nischen Voraussetzungen für Dokumenten-Manage-ment existieren auf jedem modern aus-gestatteten PC-Arbeitsplatz. Dies führte dazu, daß viele der klassischen Anbieter nicht mehr auf eigenständige Umgebungen mit eigenem Clienten setzen, sondern auf Engines und Component-Ware für das Anwendungs-Enabling. Hierbei sieht der Anwender nicht mehr, daß er mit einer DMS-Lösung arbeitet. Die Funktionalität ist auf der Client- und der Serverebene vollständig eingebettet. Beim Anwendungs-Enabling werden die not-wendigen Dokumenten-Management-Funktionen direkt in anderen Client-Program-men und Anwen-dungs--oberflächen integriert. Server-Engines stellen im Hintergund die notwendige Funktionalität für Workflow, Dokumenten-Management oder Archi-vierung zur Verfügung. In sich geschlossene „Stand-alone-Lösungen“ sind kaum noch verkäuf-lich – die Anwender fordern eine immer tiefere Inte-gration. Speerspitze hierbei ist die Forderung nach einem einheitlichen Postkorb, der alle Arten von Daten und Dokumenten aus beliebigen Systemen vereinigt und die Nutzung der DMS-Funktionalität aus Text-, kaufmännischen und anderen operativen Anwendungen heraus. DMS verschwindet damit im „Bauch“ anderer Lösungen. Es entwickelt sich gleichzeitig zur Mittlerschicht zwischen verschiedensten Anwendungen und stellt einheitliche Repositories für alle Anwendungen bereit. Auch wenn diese Lösungen keine „echte Middleware“ wie z. B. CORBA darstellen, ist dieser Positionierungsansatz sehr erfolgversprechend.
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| · | Dokumenten-Management wird Basistechnologie |
Dem Dokumenten-Management gehen zunehmend die Unique Selling Points (USP`s), ihre Allein-stel-lungs-merkmale, verloren. Drei wichtige Strö-mun-gen sollen hier als Beispiel dienen:
Integration von Dokumenten-Management-Funk-tiona-lität in Betriebssysteme
Zu Beginn ihrer Entwicklung existierte - wie oben bereits skizziert - die Dokumenten-Management-Branche davon, daß sie „schwierige Dokumenten-typen“ wie Faksimiles in DV-Systeme bringen konnte oder digitale optische Speichermedien, die sich durch ihre Eigenschaften nicht mit den dyna-mischen, Magnetplatten-orientierten Betriebs-sys-temen vertrugen, anband. Viele dieser Funktionen sind bereits heute in Betriebssysteme oder Zu-satzservices überführt.
Integration in kaufmännische Anwendungen
Bedrohen die ins Betriebssystem oder Back-Office aufgenommen Standard-funktionen nur den Markt für einfache Lösungen, kommt die Gefahr für die professionellen großen Lösungen im Bereich des klassischen Dokumenten-Managements im engeren Sinn und die Workflow-Anbieter von großen Softwaresystem-Anbietern für Betriebssysteme, Office- und Groupwareprodukte und kauf-männische Anwendungen. Besonders bei den ERP-Software-systeme handelt es sich um Anwen-dungen, die die wirtschaftlich kritischen Daten von Unter-nehmen managen und verarbeiten.
Datenbanksysteme
Eine weitere Herausforderung entsteht seitens der An-bieter von Datenbanken und speziellen Such-maschinen. Heute werden Datenbanken von der Dokumenten-Management-Branche benutzt, um über Zeiger, sogenannte Pointer, Dokumente in sepa-raten Repository- oder Library-Systemen zu verwalten. Man spricht hier von Index- oder Referenz-datenbanken. Ein Argument für den Ein-satz dieser Architektur war besonders die häufig sehr große Menge an zu speichernden Daten und Dokumenten, die Skalierbarkeit der Server und die hohen Kosten für Magnetplattenspeicher. Die tech-no-logischen Grundkomponenten existieren in-zwischen seit rund 25 Jahren. Sie können als aus-gereift bezeichnet werden. Das Bild der eigen-ständigen DMS-Branche verwischt sich jedoch im-mer mehr. Dokumenten-Management ist keine Nische mehr, sondern hat sich zu einer Basis-technologie entwickelt. Überall dort, wo Doku-mente erstellt, bearbeitet, verteilt, gespeichert, ver-waltet und gedruckt werden, sind heute Doku-menten-Management-Technologien im Einsatz.
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| · | Die Anwenderanforderungen ändern sich |
Typischerweise denkt man gegenwärtig beim Begriff Dokumenten-Management an kommerzielle Lösungen in Unternehmen. Schon heute gelangt diese Technologie aber durch virtuelle Arbeits-plätze auf die PC-Arbeitsplätze zuhause. Doku-menten-Management in all seinen Varianten zur Ordnung, Erschließung und zum Austausch von Dokumenten wird demokratisiert. Dokumenten-Management-Funktionen werden die Standard-Kommunikationsmittel des Internet um Kontroll- und Bereitstellungs-techniken für große Informa-tions-bestände ergänzen. Wenig wahr-scheinlich ist allerdings, daß die Mehrheit der neuen Anwender diese Funktionen noch als eigenständiges Docu-ment Management oder Workflow kennenlernen wird. Die Funktionalität wird sich vielmehr in neuartigen Anwendungen verstecken, die auch den Workflow vom leeren Kühlschrank zum Sonder-angebot beim Kaufmann organ-isieren können. (wird fortgesetzt)