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Back to the roots: Es lebe das Papier!
Gastbeitrag von André Hoseas, Geschäftsführer der PSC Portal Systems Consulting GmbH, Hamburg, E-Mail: a.hoseas@portalsystems.de
Einleitung
Fast jedes Archivierungs- oder Dokumentenmanagementprojekt hat u.a. zum Gegenstand wie die vorhandenen physischen Papiere digitalisiert, indexiert und die Integration in die weiterverarbeitenden Systeme erfolgt. Zum Einsatz kommen Hochleistungsscanner sowie ausgefeilte Softwareverfahren für das automatische Auslesen von Feldinformationen.
Für die mobile Datenerfassung sind Geräte wie Laptops, PDA´s oder Tableau-PC´s auf dem Markt erhältlich.
Seit den 80iger Jahren sind die Verfahren und die Technologien für DRT-Projekte stetig weiterentwickelt und verbessert worden.  Dennoch ist die papiergebundene Verarbeitung nach wie vor in vielen Applikationsbereichen unersetzbar.  Dies trifft z.B. für folgende Bereiche zu:
   
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Anwendungen, in denen der Einsatz von mobilen Geräten unpraktikabel oder zu teuer ist (z.B. Tätigkeitsnachweise von Monteuren)
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Durchschläge oder rechtlich verbindliche Unterschriften benötigt werden. (z.B. Vertragsabschlüsse bei Versicherungsvermittlern)
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Stark dezentral organisierte Firmen, in denen sich sowohl ein dezentrales Scanning als auch ein physischer Versand der Dokumente an eine Zentrale nicht wirtschaftlich rechnen lässt.
Für diese Anwendungsbereiche stehen nun eine neue Klasse von Erfassungsgeräten zur Verfügung, die im allgemeinen als Digital Pen, Digital Ink oder Digital Forms etc.  bezeichnet wird.
Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über die verschiedenen Verfahren gegeben, um anschließend im Detail auf die von der schwedischen Firma Anoto entwickelte Technologie einzugehen.
Verfahren
Die grundsätzliche Lösung besteht darin, dass die Bewegungen des Stiftes beim Schreiben auf dem Papier erfasst und anschließend auf dem Computer übertragen werden. Dort erfolgt die Visualisierung (Erzeugen eines Tiffs oder PDFs ) der Stiftbewegungen. Um ein genaues Abbild der Papiervorlage zu erhalten, sind einige technische Fragestellungen zu lösen:
   
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Woher weiß der Computer bzw. Stift auf welche Position er sich aktuell auf dem Blatt Papier befindet?
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Wo steckt die „Intelligenz“, d.h. wie erfährt der Stift bzw. Computer, dass eine neue Seite beginnt? Ein neues Formular? Wo ist der Anfang und wo ist das Ende des Blattes?
Für diese Fragestellungen sind verschiedene Verfahren entwickelt worden.
a) Tableau-gestützte Systeme
 Mit Hilfe eines digitalen Tableaus oder Notepad werden die handschriftlichen Notizen aufgezeichnet und konvertiert. Das Tableau ist verbunden mit dem Computer (oder stellt sogar den Computer dar) und enthält die Intelligenz für die Positionierung und der Benutzerbefehle.
 Auch wenn mit einem  Blatt Papier (das Tableau befindet sich unter dem Papier) gearbeitet wird, so wird dennoch eine relative teure und aufwändige Technik dafür benötigt. Stellvertretend für diese Klasse der Geräte sei der Thinkscribe vom IBM genannt.
b) Positions- gestützte Systeme
 Eine alternative Möglichkeit bieten die positionsgestützten Systeme. Dazu wird ein Blatt Papier  in eine Art Tableau eingespannt. Auf dem Tableau befindet sich ein Gerät das die Stiftbewegungen mittels Infrarot oder Ultraschall misst und speichert bzw. dem Stift mitteilt (dieser speichert dann die Bewegungsdaten). Das Positionsmessgerät oder der Stift enthalten spezielle Knöpfe, mit denen der Benutzer die Stiftapplikation steuern kann.
 Diese Variante hat den Vorteil, dass sie deutlich leichter und preiswerter als die digitalen Tableaus ist.
c) Stiftscanner
 Eine dritte Alternative stellen Stifte dar, die bei der Benutzung das Geschriebene scannen. Der Stift enthält ein Display und eine Reihe von Kommandos, mit dem der Benutzer die Stiftapplikation steuert. Teilweise können mit dem Stift auch die Kommandos geschrieben werden, d.h. die Benutzerführung erfolgt über bestimmte vordefinierte und antrainierte Schreibkommandos.
Allen Verfahren ist gemeinsam, dass kein spezielles Papier benötigt wird, aber auf dem Computer eine Software vorhanden sein muss, die die Stiftdaten applikationspezifisch verarbeitet.
Anoto – Funktionalität
Die schwedische Firma Anoto hat eine Alternative entwickelt, mit der Zielsetzung, ein Verfahren zu etablieren, dass nahezu identisch mit der normalen Handhabung mit Papier und Stift ist. Das Verfahren besteht aus einem speziell bedrucktem Papier, einem Stift und einer Serverapplikation, die die Stiftdaten verarbeiten kann.
Der Trick mit dem Papier
Im Gegensatz zu den vorher vorgestellten Verfahren liegt die Intelligenz und die Bestimmung der Koordinaten in dem Papier. Die Grundidee ist wie folgt:
Auf dem Papier wird ein – für das Auge lediglich als dunkler Untergrund erkennbarer – Punktraster aufgedruckt. In diesem Punktraster sind die Positionskoordinaten kodiert. Beim Schreiben auf dem Papier scannt der Stift den Hintergrund, so dass dadurch die absolute Position auf dem Papier bestimmt werden kann.
Die Punkte befinden sich in einem Rasterabstand von 0,3 mm, wobei jeder Rasterpunkt 2 Bit repräsentiert. Der Stift scannt in einem 6x6 Raster, d.h. eine Positionskoordinate entspricht 72 Bit an Informationen.
Dabei sendet der Stift ein Infrarot-Signal aus, das von den Rasterpunkten reflektiert wird. Eine wichtige Voraussetzung ist dabei, dass der Hintergrund mir einer Karbonhaltigen Farbe gedruckt ist, die eine Reflektion von Strahlen in den Bereich 800- 950 nm erlaubt. Aufgrund dieses Reflektionsverhaltens kann nun das Formular beliebig bedruckt werden (in Farben, die in einem anderen Wellenbereich reflektieren) oder beliebig beschrieben werden. Sie könnten sogar Kaffee auf das Papier schütten, es würde die Positionserkennung nicht beeinträchtigen. Beim Druck des Papiers ist dies mit zu berücksichtigen, führt aber zu einem sehr robusten Erkennungsverhalten des Stiftes.
Die Informationsmenge des Hintergrundmusters erlaubt theoretisch ein Blatt Papier, das so groß ist wie die Fläche Europas und Asiens zusammen. Trotzdem würde der Stift jede Position auf dem Blatt Papier eindeutig erkennen können. Diese große Menge an Punktmustern erlaubt nun auch die Reservierung von speziellen Hintergrundmustern (Anoto bezeichnet die Felder als Pidgets), mit denen fest eine Funktion verknüpft ist, die der Stift oder die Serverapplikation ausführt.
Beispiele für Pidgets sind z.B. Felder für „Neues Dokument“, „Neues Blatt“, „Blatt fertig und Senden“ oder  „Senden als Fax“. Insgesamt gibt es ca. 50 Pidgets, d.h. Hintergrundmuster, mit denen eine spezielle Funktion verknüpft ist.
Das Markieren eines Feldes mit dem Stift kann dann zugleich ein Kommando für den Stift darstellen, wobei der „Befehlsumfang“ zwischen den verschiedenen - auf den Markt erhältlichen - Stiften leicht variieren kann.
Stift ist nicht gleich Stift
An dieser Stelle ist es Zeit auf die Rolle von Anoto und die mit Anoto verbundenen Partnerfirmen einzugehen. Anoto hat das Verfahren bestehend aus dem Punktmuster, der Scantechnologie in den Stiften und der Applikationssoftware für die Verarbeitung der Stiftsoftware entwickelt. Die Vermarktung des Verfahrens erfolgt ausschließlich über ein Partnerkonzept, wobei die Partner unterschiedliche Rollen einnehmen.
So gibt es Druckereien, die gemäß Kundenvorgaben Papier oder Formulare mit dem Hintergrundmuster drucken und auch in Kenntnis bezüglich der Farbwahl vom Hintergrund und Aufdruck sind. In Deutschland bietet z.B. die Firma Diagramm Halbach GmbH in Schwerte diese Dienstleistungen an.
Ebenso gibt es Service Provider, die eine Applikation mit der Anoto Funktionalität entwickelt haben und diese vermarkten. Beispielsweise bietet die Firma bendit in Bremen ein preisgünstiges ASP Konzept für Unternehmen, die nicht selbst bei sich die benötigte Serverkomponente installieren wollen. Unternehmen wie GFT Solutions oder die Portal Systems sind klassische Systemintegratoren, die im Rahmen von Projekten kundenspezifische Lösungen implementieren. Die Stifte werden von unterschiedlichen Herstellern wie Logitech, SonyEricson, HP oder Nokia angeboten, wobei die Stifte unterschiedliche Möglichkeiten anbieten.
   
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Logitech bietet einen Stift zusammen mit einer kleinen Dockingstation an, d.h. sowie der Stift in die Dockingstation gesteckt wird, beginnt der Transfer der Stiftdaten zum Computer und Laden der Batterie des Stiftes.
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SonyEricson bietet die Möglichkeit die Daten mittels Bluetooth über ein GPRS  fähiges Handy zu übertragen. Diese Möglichkeit ist für die Außendienstmitarbeiter oder Geschäftsleute besonders interessant, die Antragsformulare oder Notizen via Handy jederzeit  von überall verschicken können.
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HP bietet die gleiche Technologie wie Logitech an, allerdings mit der Besonderheit, dass es zunächst nur in Kombination mit einer HP-spezifischen Software und Drucklösungen funktioniert (dafür aber den Vorteil bietet, individuelle Anoto-fähige Dokumente inhouse zu erzeugen).
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Nokia bietet ab Oktober 2003 ein Stift an, der sowohl das Bluethooth Modem als auch die Docking Station enthält. Zeitgleich kommt auch das neue Handy mit einigen stiftspezifischen Features (z.B. Versand vom SMS per Stift) auf den Markt.
Der von Anoto eingeschlagene Weg, die Herstellung und Vermarktung von Stiften den Technologiepartnern zu überlassen, bietet sicherlich die Chance, dass durch den Wettbewerbsdruck eine permanente Weiterentwicklung erfolgt, zunehmend mehr auf Anoto basierende Dienste angeboten und mittelfristig die Kosten für einen Stift sinken werden (Im November 2003 kostete ein Stift zwischen 200 und 300 Euro).
Datenübertragung
In den vorherigen Abschnitten wurde erläutert, wie der Stift die aktuelle Position  auf dem Blatt erkennt. Sowie die Mine das Blatt berührt, beginnt der Stift das Hintergrundmuster zu scannen. Wird nun der Stift bewegt, werden die Koordinaten der Bewegung einschließlich Zeitpunkt, Stiftwinkelhaltung und Geschwindigkeit gespeichert. Diese Vektoren werden verschlüsselt über Handy oder der Dockingstation auf den Server übertragen. Der Server „empfindet“ nun die Stiftbewegung auf einem Blankoformular nach, so dass ein originalgetreues Abbild des geschriebenen Dokumentes erzeugt wird.
Der Vektordatenstrom bietet darüber hinaus die Möglichkeit der handschriftlichen Auswertung analog von Palmtops oder biometrische Signaturvergleiche.
Zusammenfassung und Ausblick
Das hier vorgestellte Verfahren bietet eine Fülle von neuen Anwendungsmöglichkeiten. Jeder wird in seinem Umfeld papierbasierende Prozesse kennen, die mittels Anoto Funktionalität vereinfacht werden  könnten.
Es ist daher zu erwarten, dass zunächst Anwendungen, in denen die Formularerfassung und -bearbeitung (z.B. Versicherungsanträge) eine große Rolle spielen, die Anoto Funktionalität nutzen werden. Mit größeren Verbreitungsgrad der Stifte (Bundling mit Handys?) könnte eine neue Form der B to C Kommunikation etabliert werden. Wer weiß? Vielleicht ordern wir bereits in ein paar Jahren unsere Pizza mit einem Digital-Stift? Oder unsere Kinder senden ihre SMS per Papier?
Denn ein Vorteil bietet die Technologie: Papier und Stift haben nach wie vor eine hohe Benutzerakzeptanz!
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