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Wissen 0.2
Vom Wissen und den Menschen
Gastbeitrag von Jörg Wittkewitz, Unternehmensberater für Kommunikation und Wissensmanagement, E-Mail jw@wittkewitz.de.
Wissensmanagement ist bisher eine Managementtheorie. Die Unzahl der Bücher über das Thema erschreckt zusehends. Wissen wird erworben, verteilt, abgelegt und bilanziert. Mal mehr mal - weniger sinnvoll. Es wird Zeit für die Sinnfrage.
Herkunft
Auf der einen Seite entdecken alle informationstheoretisch geprägten Disziplinen das Agens der modernen Welt im Wissen. Demgegenüber stehen die Kinder der psychologischen Revolution der 80er Jahre in den Startlöchern und pflastern das Web mit Tagging und Social Software. Und dann sind da noch die Numerologen und Kabbalisten der Szene, die in atemberaubenden Zahlenkolonnen das Wissen eines Unternehmens bilanzieren, aber an einer quantifizierbaren  Bedeutung dessen scheitern, was sie da zählen.
Aus Sicht der Unternehmen sind dann natürlich so genannte Did-you-know?-Ansätze die liebsten. Oder die tollen Baukastensysteme mit allerlei Kreisläufen und Treppen. Da werden neue Rollen über alte Mitarbeiter gestülpt, was die bisherige Arbeit nicht eben vereinfacht. Wissen wird erworben wie Eigentum und offenbar kann man es ebenso makeln. Nur weiß eigentlich keiner, was er das so erwirbt und makelt. Der Hinweis, dass es sich offenbar um einen Produktionsfaktor handelt, erhellt den Begriff keineswegs. Den der bisherigen Trivialansatz, Wissen sein Teil der Elementarfaktoren muss mindestens dahingehend erweitert werden, dass Wissen auch ein dispositiver Faktor ist und damit Teil der Betriebsführung. Das hat auch Folgen für die inflationär verbreitete Theorie, Wissen sei eine Synthese aus Daten, Information und Bedeutung.
Informationstheoretisches Wissen
Um das mechanistische Modell „Daten + 
Syntax = Information“ und in der Folge „Information + Bedeutung = Wissen“ auf die Spitze zu treiben, haben einige Autoren im Genfer Modell Wissenskreisläufe entworfen. Diese trivialisierende Sicht auf etwas in der Neurowissenschaft und der Psychologie bisher völlig Ungeklärtes wie Wissen erscheint sehr mutig. Es ist im Kern eine unzumutbare Reduktion von Komplexität. Ist doch der Kernbestandteil der Theorie, das Wissen,  eine weitgehend unbekannte Größe. Aber seine materialistische Herleitung aus Information und Syntax erlaubt eine Einteilung in Wissensziele, Wissensidentifikation, Wissenserwerb, Wissensentwicklung, Wissensverteilung, Wissensnutzung, Wissensbewahrung und die Wissensbewertung.
Das Erste ist aus betriebswirtschaftlicher Sicht nachvollziehbar. Allerdings sind Wissensziele nur so gut wie die vorhergehende Analyse des Ist-Zustands. Der zweite Bestandteil verschärft die Nähe zu einem infiniten Regress (Zirkelschluß), denn das Wissen vom Nichtwissen zu trennen, erfordert Wissen übergeordneter Kategorie. Wie kann ich aber Wissen, dass ich noch nicht kenne, innerhalb des Neuen und Unbekannten erkennen? Da tut sich die alte Rückspiegelproblematik auf, die wir täglich im Data Warehouse erleben. Der Wissenserwerb beschreibt seine Voraussetzungen nicht, grenzt sich nicht klar vom Lernen ab und hat dann das Problem, mit der sogenannten kognitiven Wende der 80er Jahre: Man könnte es den "strukturalistischen" Wunsch nennen, der besagt, dass man Informationen nur bestmöglich strukturieren muss, um so (neues) Wissen entstehen zu lassen. Moderne konstruktivistische und neurowissenschaftliche Erkenntnissen bleiben hier leider unberücksichtigt, weil sie das Modell offenbar fragwürdig oder zumindest kaum begründbar erscheinen lassen. Die weiteren Bestandteile erleiden auf demselben Weg eine mangelhafte wissenschaftliche Untermauerung. Denn außer in mathematischen Regionen bildet der Mensch seine Wahrheiten und Wirklichkeiten nicht ontologisch-objektiv. Die Psychologie erkennt inzwischen, dass der Mensch sein Wissen auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen und persönlichen Vorwissens erlangt. Damit erleidet jede Objektivität das Problem, dass sie als eine menschliche Erfindung gelten muss, also letztlich eine jeweils subjektive Auslegung eines verabredeten Begriffs. Dasselbe  Problem, das auch soviel vermeintlich sichere stochastische Ergebnisse in den Rang einer willkürlichen, individuellen Interpretation erhebt.
Durch den neuen konstruktivistischen Ansatz, dass Menschen ihre Wirklichkeiten selbst entwerfen, die mit keiner anderen Wahrnehmung eines zweiten Individuums übereinstimmen, gelangte die kognitive Psychologie zu ihrer Grundthese, dass Wahrnehmung, Verstehen und Lernen gehirnphysiologische Konstruktionsprozesse des jeweils individuellen Subjekts sind.
Die Münchner Kollegen sind daher etwas vorsichtiger und verorten das Wissen irgendwo zwischen Handeln und Information. Zentral sind hier die Wissensrepräsentation, Wissensgenerierung, Wissensnutzung und die Wissenskommunikation. Sie zielen eher auf die Kultur in einer Organisation und den Umgang mit Wissen und Wissensträgern.
Deklaratives/Prozedurales Wissen -
Implizites und Explizites Wissen
Einen anderen Weg gehen Theorien, die das Zusammenspiel von Hirnaktivität und Hirnstruktur fokussieren. Denn die Kognitionsforschung unterscheidet zwischen dem Faktenwissen (deklarativ) und dem so genannten Gebrauchswissen (prozedural), das oft mit Prozesswissen synonym gesetzt wird. Das Problem dabei ist, dass man festgestellt hat, dass beide aufeinander basieren können. Aus der Hirnforschung ist bekannt, dass man nicht, wie viele Wissensmanagementtheoretiker annehmen, unbedingt Faktenwissen braucht, um erfolgreich Handlungskompetenz zu erlangen.
Ein Patient konnte komplexe Tätigkeiten erlernen, wie das geplante Versetzen von Scheiben in dem Spiel "Turm von Hanoi". Wegen der Zerstörung eines Hirnareal namens 'Hippocampus' erinnerte er sich nicht daran, dass er das Spiel erlernt hatte. Er konnte das Spiel aber auf Grund seines intakten prozeduralen Lernens dennoch jeden Tag besser ausführen als vorher. Ein solches unbewusst durch das praktische Tun erworbene Können wird oft implizites Wissen genannt. Dies wird gegenübergestellt einem bewusst artikulierbaren expliziten Wissen. Bei der häufig anzutreffenden Verwechslung dieser Begriffspaare sei darauf hingewiesen, dass es sich bei Faktenwissen nicht immer um faktisch vorhandenes Wissen handelt, das explizit abgerufen werden kann, obwohl es im Rahmen von prozeduralem Wissen genutzt wird.
Nonaka und Takeuchi, die "Väter" der Theorie der Wissensspirale haben in Abgrenzung zum Primat des Faktenwissens in der westlichen Welt angeregt - wieder eine Art Treppe wie bei dem Genfer Modell - einen Reifeprozess des Wissens zu betrachten, der die folgenden Wissensebenen durchläuft: Individuum, Gruppe, Unternehmen und Interaktion zwischen Unternehmen. Dies geschieht in einer Spiralbewegung zwischen explizitem und implizitem Wissen. Das Funktionsmodell wurde als SECI-Modell bekannt (Socialization - Externalization - Internalization - Combination), wobei Sozialisierung und Internalisierung dem impliziten Wissen entsprechen sollen.
Die klinische Tatsache, dass einige Hirnverletzungen eine Amnesie auslösen, die das bewusste Erinnern neuer Erlebnisse hemmt, nicht aber ein unbewusstes(!) prozedurales Lernen, zeigt, dass das explizite Lernen von grammatischen Regeln keine notwendige Voraussetzung dafür ist, dass es zu einem prozedural und grammatisch flüssigen Sprechen kommt. Das steht nicht im Widerspruch dazu, dass explizite Regelkenntnisse eine stützende Funktion haben können.
Was heißt das für das SECI-Modell? Explizites Wissen kann eine stützende Funktion beim Erlernen haben. Es ist aber sicher keine Spirale begründbar, die aufeinander aufbauende Prozesse vom einen Bereich zum anderen erklärbar macht. Im Gegenteil: Internalisierung ist gut begründbar, Externalisierung ist eine mögliche Folge von impliziten Vorgängen, die kaum erforschbar sind, da auf subjektiver Ebene gearbeitet werden müsste. Dies ist im aktuellen Weltbild und Erklärungsmodell der meisten Wissenschaften nicht geleistet worden und gilt schlicht als unprofessionell.  Erst langsam tasten sich Neurowissenschaftler oder Philosophen wie Chalmers und Metzinger in die Regionen der Subjektmodelle. Anerkannte Ausnahmen sind hier nur der Konstruktivismus und die moderne theoretische Physik.
“The map is not the territory”
Wissenslandkarten und Wissensnetzwerke haben dasselbe Problem wie alle Repräsentationen: Sie genügen nur sich selbst. Alle Darstellungen von Communities, also potenziellen Zirkeln von Wissensträgern oder Darstellungen von Tag-Clouds als Aggregationen von gespeichertem Wissen in Datenbanken zeigen etwas. Sie können den schönen Wunsch "knowledge at your fingertips" visualisieren, aber eben nur den Wunsch. Lern- und Wissensstrategien für sprachlich artikulierbare Inhalte basieren immer auf sogenannten cues (Hinweise). Sie werden in der Lernpsychologie verstanden als Erinnerungshilfen an das, was zusammengehört oder was konzeptuell oder in der Bedeutung zwischen Begriffen steht. Was heißt das? Wenn sie eine lernende Organisation als Ziel ihres Vorhabens deklarieren oder wenn sie ihren Mitarbeitern besseren Zugang zum Wissen ermöglichen wollen, dann kaufen sie keine neuen Portale oder Datenbanken sondern ermöglichen sie viele Kombinationen der einzelnen Wissensträger. Nur dann kann sich Wissen bilden.
Ein guter praktischer Ansatz wäre es, sich mit Belbin-Bögen zu beschäftigen und Teams aufgrund ihrer ergänzenden oder konträren Profile zusammenzusetzen. Wenn in ihrem Personalteam niemand Belbinbögen oder andere Teambuilding Methoden kennt, haben sie eminentes Problem: Ihre Personaler fühlen sich nicht für den Erfolg der Menschen verantwortlich, die sie einstellen. Dann hilft kein Change Management. Denn Menschen entwickeln sich durch den Einfluss verschiedener und sich gegenseitig beeinflussender Faktoren ganz verschieden. Dadurch bilden sich gewisse charakteristische Eigenschaften einer Person und somit auch des Rollenverhaltens in Teams heraus. Denn jeder Mensch verfügt über spezifische Stärken und Schwächen im Team, die nach R. Meredith Belbin mittels eines Fragenkatalogs zur Selbsteinschätzung und in der Folge durch die Beurteilungen von Beobachtern beschreibbar sind, um so das Rollenprofil bestimmen zu können. Auch die Bewertung ganzer Teams ist durch die Zusammenfassung der Einzelergebnisse möglich und sinnvoll. Leider ist dieser erfolgreiche Ansatz in Deutschland nicht so bekannt. Oft wird kritisiert, dass damit Persönlichkeitsprofile erstellt werden. Es geht aber ausschließlich um die Rollenprofile in Teams und eben nicht um eine pseudowissenschaftliche Charaktertypologie.
Fazit
Es ist offenbar, dass eine Rückbesinnung auf den Wissensträger sinnvoll ist. Langzeitarchivierung im Wissensmanagement besteht aus einer attraktiven Firma für intelligente Menschen, ein gutes Brand Management in Recruitingkreisen und ein durchdachtes Konzept der Work-Life-Balance. Am besten ist Freiraum für Gespräche und Austausch vorhanden. Das kostet keine Lizenzgebühren und bindet Menschen an ihre Kollegen. Denn aus Mitarbeitersicht sind die Kollegen im Zweifel "die Firma". Ein Grund mehr, den Bereich Human Ressource in die Pflicht zu nehmen. (JW)
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