Gastbeitrag von Dr. Werner Fritsch,
Redakteur, InformationWeek,
E-Mail: Werner.Fritsch@informationweek.de
Webseite: www.informationweek.de Die Fülle der Produkte und Funktionen zur Verwaltung von Dokumenten und anderem Content beeindruckt. Die Standardisierung hinkt allerdings hinterher.
»Der Markt für Dokumenten- und Content-Management ist im Aufwind«, sagt Bernhard Zöller, Gründer der Beratungsfirma Zöller & Partner und Vorstandsmitglied beim Verband Organisations- und Informationssysteme (VOI). Als Triebfedern nennt er das Streben der Unternehmen nach Prozesseffizienz und weniger Redundanz bei Datei- und Mail-Systemen. Es gelte, den Aufwand für manuelle Such- und Ablagetätigkeiten zu verringern. Ebenfalls wichtig sind dem Marktkenner zufolge zunehmende gesetzliche Anforderungen (Compliance), die sichere Ablagesysteme verlangen, um jederzeit die relevanten Informationen vorweisen zu können. Es gehe darum, die Auskunftsfähigkeit wieder herzustellen.
»Die Flut elektronisch erzeugter oder empfangener Dokumente, Daten und Unterlagen sorgt für mehr Probleme als der historische Papiereingang«, diagnostiziert Zöller. Enterprise Content Management (ECM) sei deshalb für die Anwenderunternehmen zu einer unverzichtbaren Infrastruktur geworden.
Die großen internationalen Hersteller dieses Segments – EMC (mit Documentum), IBM (mit Filenet), Open Text sowie Oracle (mit Stellent) – bieten mittlerweile mehr oder weniger komplette Produktsuiten an. Die auf Deutschland fokussierten hiesigen Hersteller hingegen konzentrieren sich überwiegend auf Dokumentenmanagement im engeren Sinn. Vielerorts gibt es dedizierte Lösungen für bestimmte Aufgaben: zum Beispiel Postkorb- und Workflow- Software zur Prozessautomatisierung, elektronische Archivierungssysteme mit Suchfunktionen für revisionssichere Ablagen, Capture-Vorrichtungen zur Digitalisierung von Papierdokumenten, digitale Signaturen für den E-Mail-Verkehr und vereinzelt auch schon Wikis und Blogs für die Zusammenarbeit. Zöller weiß von Tausenden erfolgreicher Installationen: »Die Lösungen tun, was sie sollen.« Gerade in Deutschland gebe es einen intensiven Wettbewerb um Preise und Funktionen. Die Kosten für Bildschirme, Speicher und Netzwerkbandbreiten seien heute geringer, sodass sich auch kleine und mittlere Unternehmen ECM leisten könnten.
Vorsicht bei kompletten ECM-Suiten
ECM-Produkte bieten augenscheinlich eine breite Feature-Palette: von der Erfassung über die Bearbeitung und Verteilung bis zur Ablage. Martin Böhn, Analyst bei der Würzburger Marktforschungsfirma BARC, kritisiert freilich, dass es hier zu viele Begriffe gibt. Er empfiehlt den Anwendern, nicht auf die Schlagwörter zu achten, sondern zu schauen, was ihnen im Hinblick auf ihre Gegebenheiten und Anforderungen weiterhelfen kann. In der Anbieterlandschaft sorge Microsoft mit der Sharepoint-Software für Bewegung, Partner bieten zusätzliche Funktionalität dafür. Außerdem beweise Open Source Reife, namentlich Alfresco macht von sich reden. Neue Anbieter können neu anfangen und müssen nicht Software mitschleppen, die von ihrem Ansatz her in die Jahre gekommen ist. Bei kompletten ECM-Suiten rät Böhn indes zur Vorsicht: »Auch wenn alles aus einer Hand kommt, ist die Integration nicht garantiert.« Oft wurden Komponenten zugekauft oder per OEM-Vertrag dazugepackt. Jenseits des allgemeinen ECM-Kurses sieht Böhn bei den Anbietern einen Trend zu vielfältigen Lösungspaketen, zum Beispiel für den Posteingang. Ferner stehen die Einbindung unterschiedlicher Informationsquellen und die Integration mit anderer Software im Fokus.
Standards im Umfeld
Die Experten sind sich einig: Standardisierung kann helfen, die Kosten zu senken und die Abhängigkeit von einzelnen Anbietern zu verringern. Denn die Interoperabilität und Austauschbarkeit von Komponenten verbessern sich dadurch. Überdies gibt es lange Aufbewahrungsfristen, was bei ECM stabile Systeme und zuverlässige Migrationsmöglichkeiten erfordert, wie Thorsten Brand, Berater bei Zöller & Partner, betont.
Im Umfeld von ECM gibt es eine ganze Reihe von Standards, die teils von einzelnen Herstellern gesetzt wurden und sich dann weit ausgebreitet haben und teils von Gremien internationaler Organisationen verabschiedet wurden. Brand nennt Dateiformate wie PDF/A, ODF, TIFF oder JPEG und Metadatenformate wie XML oder Dublin Core. Außerdem verweist er auf Standards für digitale Signaturen und Speichersysteme. Für Geschäftsprozesse hat die Workflow Management Coalition (WfMC) schon vor langem ein Referenzmodell erarbeitet, jüngeren Datums sind die Standards BPMN und BPEL aus dem Web-Services- und SOA-Umfeld. Im öffentlichen Sektor gibt es außerdem fachliche Spezifikationen wie DOMEA und MoReq, und nicht zuletzt werden die gesetzlichen Vorgaben mit gesamtwirtschaftlicher Gültigkeit wie GDPdU immer mehr. Im Kernbereich der Dokumenten- und Content-Technologien sieht es hingegen anders aus. Vorherrschend sind proprietäre Adapter und Schnittstellen, mit denen Repositories Informationen austauschen oder mit betrieblichen Applikationen zusammenarbeiten können. Ein Beispiel ist SAPs Archive-Link-Schnittstelle. Anläufe zu herstellerübergreifender Standardisierung hat es zwar gegeben: namentlich die Open Document Management API (ODMA) für die Kommunikation zwischen Desktop-Anwendungen und Dokumentenmanagementsystemen, die Java Specification Requests (JSRs) 170 und 283, um den Zugriff auf Content Repositories in der Java-Welt zu vereinheitlichen, sowie Web Distributed Authoring and Versioning (Web-DAV) zur Bereitstellung von Dateien im Internet. Aber die Verbreitung ist sehr beschränkt geblieben: »zu schmal oder zu komplex«, urteilt das Marktforschungshaus Gartner.
Neuer Hoffnungsträger
Seit 2006 arbeiten EMC, IBM und Microsoft an den Content Management Interoperability Services (CMIS), die den Austausch von Informationen zwischen Repositories unterschiedlicher ECM-Systeme regeln sollen. Offiziell vorgestellt wurde das Projekt am 10. September. Definiert werden dort Datenstrukturen und Dienste, zugelassen sind das Simple Object Access Protocol (SOAP) und der teilweise konkurrierende Representational State Transfer (REST). Zum Tragen kommen Technologien für Web Services sowie für Web 2.0 (Mashups). Die entsprechenden Dienste sollen sich in Applikationen künftig einfach aufrufen lassen. Die Spezifikation ist bei der Organization for the Advancement of Structured Information Standards (Oasis) eingereicht, und über die Haupturheber hinaus haben die Hersteller Alfresco, Open Text, Oracle und SAP mitgewirkt. Udo Hertz, bei IBM in Böblingen Director of Information Management Development, erwartet breite Akzeptanz. Neben den Endkunden sollen auch die Geschäftspartner von CMIS profitieren. Allerdings wird die Version 1.0 frühestens Ende nächsten Jahres verabschiedet sein; bis CMIS in ECM-Produkten implementiert ist, dürfte es dann 2010 werden. Brand traut dem neuen Hoffnungsträger trotzdem mehr zu als etwa den JSRs für Repositories, die nur bei großen Herstellern und für Web Content Management eine gewisse Rolle gespielt hätten. »Das technische Umfeld ändert sich schnell, und die Anwender haben ein Interesse an Standards«, weiß der Marktkenner. Bei den Herstellern ist das Interesse dagegen nicht so ausgeprägt, weil alles aufwendiger wird und die Kosten steigen. Und wenn sie zu einem Konsens kommen und gute Standards tatsächlich in ihren Produkten implementieren, wollen sie sich weiterhin von ihren Konkurrenten unterscheiden und warten alsbald mit diversen Zusätzen auf. Nicht zuletzt wird dadurch auch die Austauschbarkeit reduziert und die Kundenbindung erhöht. So will denn auch IBM zusätzlich zu den im künftigen Oasis-Standard spezifizierten Basisdiensten für Repositories weitere Services entwickeln, sagt Hertz. Ein ECM-Produkt muss eine serviceorientierte Architektur aufweisen, um diesen Standard überhaupt implementieren zu können, geben die Analysten von Gartner zu bedenken. Und im Lauf der Zeit könnten noch mehr Hindernisse auftauchen. Die Zukunft von CMIS sei deshalb ungewiss. Bis auf Weiteres werden in der ECM-Welt auf jeden Fall auch künftig proprietäre Adapter und Schnittstellen gebraucht.