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Enterprise 2.0 – Das Ende der Community ist der Beginn von benutzergenerierten Tools
Gastbeitrag von Jörg Wittkewitz,  
Autor, Berater und Herausgeber von
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Collaboration. Seit mindestens 10 Jahren geistert dieses Schlagwort durch die Welt der Unternehmenssoftware. Angesichts der Idee der benutzergenerierten Inhalte rund um Web 2.0 lohnt es sich, den Begriff neu ins Visier zu nehmen. Am besten entwerfen wir doch unser Werkzeug so wie wir es haben wollen, das ist dann ein benutzergeneriertes Tool. Und endlich ist der Gedanke von Web 2.0 zu Ende gedacht und nicht auf halbem Wege in der Verantwortung der heiligen Softwaregestalter stecken geblieben. Und die Compliance geht gegen 100%, meine Damen und Herren Controller und ROI-Skeptiker. Es gibt keine tief hängenden Früchte, außer man bindet die Nutzer ein. Denn Social Software braucht eine Umwertung von Effizienz zu Effektivität. Aber beginnen wir bei den Ursprüngen der gemeinsamen Arbeit.
Historische Grundlagen
Denn historisch betrachtet, nimmt dieser Ansatz seinen Anfang tatsächlich bei dem römischen Rechtsgrundsatz quid pro quo (lat. dieses für das; inhaltlich „eine Hand wäscht die Andere“). Damit erklären auch die modernen Soziologen und die Spieltheorie wie die größte Erfindung der Aufklärung, das unabhängige Individuum namens Ego oder präziser die Egos mehrere Handlungen aufeinander beziehen, um ein gemeinsam erstrebtes Ziel zu erreichen oder gemeinsam von den positiven Wirkungen eines erreichten Zustand zu profitieren.
Soweit dürfte es keinen Widerspruch geben. Doch schon in meiner seltsamen Formulierung des Individuums als Erfindung der Aufklärung liegt ein Hinweis auf das dünne Eis, auf dem kooperatives Handeln zumeist schlittert. Dieses Eis bricht immer dann ein, wenn: elementare Bedürfnisse nicht erfüllt sind, persönliche Motive vorgetäuscht werden oder aber diese Kooperation gar nicht aufgrund individueller Neigung oder zufälliger Zusammenkunft entstand, sondern aufgrund struktureller Bedürfnisse einer Metainstanz wie Führungskraft, Projektbesetzung oder eben Abteilungszugehörigkeit. In all diesen Fällen bedarf es nur ein oder zwei unbedarfter Formulierungen, und das Eis knackt bedenklich und die ersten erfahrenen oder sensiblen Menschen bewerten die Kooperation als gefährdet oder zerstört.
Im Zentrum: Mensch oder Dokument?
In Bezug auf die softwaregestützte Kollaboration gibt es zusätzlich noch die beiden Dimensionen der menschenzentrierten Kooperation (ich nutze das Wort jetzt einfach als synonym für Kollaboration, da es weniger Kriegsassoziationen hervorruft) und die Dimension der dokumentenzentrierten Kooperation. Beides kann nicht sinnvoll getrennt voneinander in Handeln münden.
Das bekannteste und erfolgreichste, weil mächtigste Tool, das beide Dimensionen umfasst ist die E-Mail inklusive dem Anhang. Ich brauche jetzt keine Diskussion um den datenbankorientierten Ansatz von Lotus Notes und den Outlook-Ansatz gegeneinander antreten zu lassen - ich bin ja auch entschiedener Linux-Anwender und habe das Glück, nicht mit einem der beiden Tools arbeiten zu müssen. Beide haben ihre Schwächen und Stärken.
Im Anfang des Wissensmanagements hat man geglaubt, dass dort alles Firmenwissen enthalten wäre und so hat man am Freitag Abend einfach alles „Wissen“ auf ein Repository hoch geladen und damit war das Wissen gesichert. Das war etwas unreflektiert und vor allem entsprang es dem Wunsch der Marketeers, dass man einfach etwas hinter die bestehenden Lösungen flanscht, nämlich einen tollen Wissensspeicherserver, der die Daten in den einzelnen E-Mailaccounts zum Firmenwissen zusammen mixte. Vielleicht kennen Sie noch den Namen Raven? Das entspricht natürlich dem tayloristischen Gedanken, dass anhand der realen Geschäftsprozesse, die ja im E-Mail-Verkehr abgebildet sein sollten, alles Essentielle enthalten war. Nun fehlte noch ein sehr fähiger Mathematiker, dessen Algorithmus das ganze Wissen extrahieren konnte. Er wird noch immer erwartet. Peter Dueck wollte nicht und stürzte sich daher auf den eher menschenzentrierten Ansatz der Collaboration, und zwar ohne sozialkonstruktivistische oder gar wissenssoziologische Ausbildung. Mutig. Aus dem Hause Microsoft hört man wenig zu dieser Diskussion. Man hat ja Ray Ozzie und damit das Militär als Kunden. Wer braucht da schon andere Zaungäste?
Wissen oder Daten?
Das mit dem Wissen extrahieren klappte also nicht. Das Paketmodell des Wissens war damit entsorgt und wurde in der Idee des Data Warehouse verklappt. Dort geistert es noch heute herum und ernährt viele Softwarefirmen aufs Schönste. Dass Firmen mit diesem Blick in den Rückspiegel leichte Blessuren auf dem Weg in die Zukunft davontragen, scheint wenige davon abzuhalten, weiterhin alles, was sich nicht wehrt, in ein Data Warehouse zu speichern. Aber das ist eine andere Geschichte...
Zurück zur Kollaboration: E-Mail-Programme erhielten Kontaktverwaltungen. Naja, sie erhielten Adressbücher. Es konnten - ich verstehe bis heute nicht warum - keine dem CRM vergleichbaren Funktionen in ein E-Mail-Programm installiert werden. Man versucht heute CTI, CRM und E-Mail zu verknüpfen, aber ich glaube, wer force.com pro Jahr 10% der Kunden abnehmen will, könnte das schnell umsetzen, wenn er oder sie ein bisschen Erfahrung und Mitleid mit den Sales-, Presales- und Marketingkräften hätte. Dann kamen Wikis und Groupware, virtuelle Whiteboards, Videokonferenzen und Instant Messaging Ende der Neunziger. Das alles gibt es schon seit 10 Jahren im Firmenumfeld. Und auch das Peer-to-Peer im Firmenumfeld hat vor allem in der aus meiner Sicht sehr sinnvollen hybriden Realisierung seinen ersten Siegeszug vor Web 2.0 mit Napster weltweit erlebt. Aber davon redet heute keiner der großen Web 2.0 oder Enterprise 2.0 Berater, weil Sie damals noch nicht mal wussten, was sie studieren sollten. Es war der Klimax der Webblase, für alle, die es nicht erlebt haben.
Virtuelle Kollaboration geht nur mit realer Demokratie
Warum das alles? Clay Shirky, einer der wenigen weltweit anerkannten Vordenker rund um das Thema Enterprise 2.0 hebt auf den Umstand ab, dass Community, der essenzielle Begriff der Web 2.0 Welt eigentlich bei Enterprise 2.0 marginal ist. Warum? Ähnlich wie bei Wikipedia geht es im Firmenumfeld eher um ein gemeinsames Erstellen von Inhalten (Co-Creation). Die Community ist ja eher ein Begriff, den man als Interessengruppe übersetzen könnte (also Tangoliebhaber, Auquarienfreunde oder Corvettefreaks bilden jeweils eine Community und kommunizieren über Blogs im Web). Das ist bei Enterprise 2.0 anders.  Dort geht es darum, gemeinsam eine Website mit Texten zu füllen. Entwickler, Produktmanager, Texter und Übersetzer erstellen gemeinsam eine Reihe von Dokumenten. Seit Enterprise 2.0 könnten sie sich eigene Vorgehensweisen und Werkzeuge überlegen. Aber sie werden keine Community, nur weil sie öfter mal im Jahr ein paar Dokumente gemeinsam erstellen. Wir müssen solche funktionalen Gruppen noch besser verstehen und deren Erwartungen und Anforderungen gezielter erfüllen als bisher. Oder muss man E-Mail und Konsorten für diese Gruppen einfach nur anpassen?
Einige Zeitgenossen aus der Web 2.0 Welt könnten meinen, dass Wikis und E-Mail kaum zum Kern von Web 2.0 gerechnet werden. Genauso ist es. Es wohnen ihnen nämlich keine demokratischen Strukturen inne. Wer die Tatsache erkannt hat, dass eine E-Mail, die an acht Leute versandt wird und jeweils dasselbe Attachment enthält, und dieses achtmal in das Repository geschrieben wird (am Freitag Abend!), der hatte sich schon fast einen Platz als Chief Technical Officer ergattert, wenn er diesen Sachverhalt als unnötige Redundanz abgestellt hatte.
Was, nebenbei gesagt, noch nicht alle E-Mail-Lösungen vollständig vollbringen können. An all solchen dokumentenzentrierten Ansätzen wurde dann jahrelang herumgeschraubt. Bis zu dem Tag, an dem E-Mails aus gesetzlichen Gründen vollständig digital mit Zeitstempel archiviert werden mussten. An diesem Tag war offenbar der CTO im Urlaub. Keiner kümmerte sich mehr um das Tool, das mittlerweile - wir sind schon im Zeitalter von Web 2.0 - mehr als 70% der Geschäftskorrespondenz ausmacht. Warum auch? Warum sollte man benutzergenerierten Content, den man zu Abermillionen von Gigabyte in den Verzeichnissystemen hat, überhaupt archivieren? Wir haben ja seit sechs Monaten ein Corporate Blog im Intranet! Nur weil ein langweiliger Gesetzgeber das vorschreibt oder dummdreiste Berater darauf drängen? Man hätte, würde man an dieses Archiv eine leistungsfähige Datenextraktion hängen - ich meine also NICHT Verity, FAST oder Autonomy - einen 1A Zugriff auf Web 2.0 Content der letzten Jahre - UserGeneratedContent at its very best.
Mein Vorschlag
Und wenn eines schönen Tages einmal ein Web 2.0 Tool entwickelt wird, dass ich uneingeschränkt meinen Kunden empfehlen würde, dann sowas:
   
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Ein E-Mail-Programm, dass über folgende Funktionen verfügt: XHMTL/XML/OPML/OWL-Browser mit personalisierbaren widgets als toolbar
   
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Automatisches Tagging (Verschlagworten) anhand von neuronalen Netzen, die zunächst das manuelle Tagging des Menschen beobachten und dann nach drei Monaten nur noch bei Wahrscheinlichkeiten unter 85% Vorschläge machen, inklusive der Möglichkeit eigene Ontologien und Taxonomien einzuhängen, ja auch die von Lexis-Nexis zum Beispiel... und zwar für den Text UND das Attachment inkl. der  evt.  Vorhandenen  Metadaten!  Bewerten  der  E-Mail durch den Nutzer für bestimmte Kategorien oder Anwendungszwecke
   
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Normalisieren der Daten bevor alles 
A: ins Archiv wegpdft wird 
B: die normalisierten Inhalte ins Repository gestellt werden
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Eine Kontaktverwaltung, die über Yellow Pages hinausgeht, weil sie PROAKTIV bei der Bewertung der E-Mail den Absender einblendet und Funktionen wie Anruf/Wiedervorlage/Einladung/ Personalgespräch/Eskalation etc. pp je nach Rolle als HANDLUNGEN mit INHALTEN und MENSCHEN koordiniert aus markierten Bereichen Namen anonymisiert und in ein Forum stellt, das allen Nutzern einer bestimmten Gruppe zur gemeinsamen Bearbeitung schwieriger Fälle dient und Teil der ständigen Oberfläche ist inkl. Chat oder Twitter/Yammer
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Mailserver erstellt bei jedem neuen Account eine Website im Intranet mit den öffentlich zugänglichen Kontaktdaten und allerlei Sozialen Funktionen wie „Mittagspausemodus“, virtuelle Getränke, Taschentücher, etc und natürlich dem Schwarzen Brett etc. für Verkäufe und Parkplatztauschangebote etc.
Ich bitte um rege Beteiligung bei weiteren Funktionswünschen oder - bedürfnissen. Denn nur wenn eine Unternehmenssoftware auch die privaten Bedürfnisse der Mitarbeiter in den virtuellen Raum überträgt, dann erst hat es eine Chance, eingesetzt und benutzt zu werden. Chevron hatte das erste Wissensmanagementtool der Geschichte auch auf der Basis eines Schwarzen Bretts der Mitarbeiter für sehr private Zwecke entworfen. Kommen wir wieder zurück und halten uns nicht bei den Präsentation 2.0  und Wiki 2.0 auf. Work-Life-Balance muss in den Code implementiert werden, sonst machen die Leute nicht mit. Da helfen keine incentives oder innovative neue MBA-Besen. Let’s face it. Frei nach Seth Godin. Don’t plan: execute - and be aware of the momentum.
 
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